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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

Vorrücken innerhalb unseres Vaterlandes, und darüber hinaus, bewegt.

Unter letztere Classe gehört auch die bis zum hohen Norden Europa’s, Asiens und Amerika’s heimische Wild-oder Graugans, die Stammmutter unserer verschrieenen Hausschnatterer. Denn gern bleiben diese frostgewöhnten Gäste, kommen sie auf ihren Wanderzügen daher, bei uns und gesellen sich dann den in manchen Gegenden Deutschlands ja auch nistenden und das ganze Jahr über dableibenden Schaaren ihrer Art zu. Hier, in ihren Winterquartieren, leben sie dann, Alt und Jung, in friedlicher Geselligkeit auf eisfreien Stellen großer See’n, Teiche und Flüsse, von wo aus sie in „Schafen“[1] zu ganz bestimmt innegehaltenen Stunden auf die nahgelegenen Aecker fallen, hier ihre Aeßung an Rüben, Raps und Wintersaaten zu nehmen. Von diesen Weideplätzen kehren sie nach Sättigung in eben so regelmäßigen Zeiträumen zu Haufen nach dem schützenden Wasser zurück, wie sie gegangen. Im Uebrigen, je nach den Jahreszeiten, besteht ihre Nahrung auch noch aus süßen Gräsern, Wasserpflanzen, Blättern von Kraut, Kohl und allerhand Feldfrüchten, wie reifem Getreide und Hülsenfrüchten. Und von denselben Stoffen, nur in der ersten Zeit zumeist ausschließlich von Grünfutter, ernähren sich an ihren Geburtsstätten auch die ausgekommenen Jungen, deren gewöhnlich acht bis zwölf Stück von einer Mutter in einer Zeit von vier Wochen ausgebrütet werden, während das Männchen am häuslichen Heerde die ritterliche Wacht hält. Sind die Jungen endlich dem Ei entschlüpft, so werden sie zuvörderst noch vierundzwanzig Stunden in dem kunstlos aus Schilf und Binsen erbauten, mit eigenen Federn ausgefütterten Neste, das auf trocknen Kaupen oder Wurzelstöcken den Sumpf oder das Wasser überragt, sorgsam gehütet, dann aber die kleinen gelbgrauen Dingerchen sofort in’s Wasser und auf die Weide geführt, wo sie auch gleich die Wasserbinsen und süßen Grasspitzchen als erste Nahrung annehmen.

Ende Juli werden die bis dahin sorgsam Geführten bereits flugbar, um, sind sie, wie die im hohen Norden Geborenen, zum Wanderzuge gezwungen, diesen auch rechtzeitig antreten zu können, auf welchem sie oft schon im September in Deutschland eintreffen. In dieser Zeit und noch das erste Jahr hindurch liefern die Jungen ein höchst schmackhaftes und zartes Wildpret; hingegen so ein recht alter Gikgak dürfte eine der würdigsten Aufgaben für einen Chemiker abgeben, ihn, den steinharten Muskelstarken, für das menschliche Gebiß mürbe zu bekommen. Was die geistigen Eigenschaften der Wildgans anlangt, darf man sie durchaus nicht nach unsrer guten Bauerhusche beurtheilen, denn nicht nur scheu und im höchsten Grade argwöhnisch ist jene, sondern auch wirklich schlau und raffinirt vorsichtig, so daß man ihr eine entschiedene Intelligenz nicht absprechen kann. So stellen die schmucken Ahnen unseres zahmen Latschpeters jedesmal, wenn sie behufs ihrer Aeßung auf den Feldern liegen, aufmerksamste Wachen aus, und diese wissen dann vortrefflich den harmlosen Pflüger neben sich oder den auf naher Landstraße daherkommenden lautrufenden und peitschenden Fuhrmann vom schleichenden Jäger zu unterscheiden; ebenso darf die unter schwerer Korblast keuchende biedere Botenfrau, wie die Holz heimtragende lautjubelnde Dorfkinderschaar an ihnen vorüber wandern, ohne daß die eigentlich so sehr Mißtrauischen davor die Flucht ergriffen.

Hierauf stützt sich denn auch eine oft erprobte Jägerlist: in dergleichen Metamorphosen sich an die nur dadurch zu Täuschenden heranzupürschen und, glückt es, eine oder ein paar dadurch Ueberlistete zu erlegen. Sonst wird die Jagd da, wo dieses interessante Geflügel Standwild ist, wie die auf Enten betrieben. So wird dasselbe in Stocknetzen gefangen, bei Treibjagden im Wasser, durch Beschleichen am Ufer und, wie schon erwähnt, an den Aeckern geschossen, sowie aus der Schießhütte und auf dem Anstande im Freien erlegt. Letzteren nun kann ich aus eigener Erfahrung schildern, die freilich nicht etwa in den wasserwildreichen Gegenden der Nistplätze des eben beschriebenen Schwimmvogels gesammelt ist, sondern nur auf einem beschränkten Terrain, wo dieses Flugwild nur vorübergehend, eben blos auf dem Striche – und dann auch nur höchstens einige Tage lang – zu verweilen beliebt. Doch gerade dieses plötzliche Kommen und baldige Wiederverschwinden dieser anziehenden Wildart hat einen ganz besonderen Reiz für mich, ihm nachzutrachten.

Stürmischem, regnerischem Octoberwetter waren schneegraue, empfindlich kalte Novembertage gefolgt und hatten wieder einmal die wilden Gänse als willkommene Gäste in die nahgelegenen wasser- und bruchreichen Reviere meiner engeren Heimath geführt. Sofort war mir von maßgebender Stelle aus Nachricht davon geworden, mit der freundlichen Einladung: „einen Tag oder mehrere daran setzen zu wollen, den fliegenden Wanderburschen die Pässe zu visiren.“ In möglichster Eile, aber wohl gerüstet, traf ich bei meinem lieben jährlichen Freunde ein, der mich gerufen, und bald darauf schritten wir auch schon hinaus in den weitgedehnten, schon recht winterfrischen Wald. Erst über von tiefdunkler Haide überwucherte Blößen und vor Frost knisternde Brüche wandernd, nahm uns von da ab ein Jahrhunderte alter hoher, wipfelrauschender Fichtenbestand auf, in dessen Schutze auf einem mit Anflug bewachsenen Hügel ein Vogelheerd stand, in welchen wir, ehe wir weiterschritten, eintraten, den hier einsam hausenden Steller zu controliren und ihm zu sagen: daß wir bei unserer Rückkehr in seiner Klause übernachten würden und für Geld und gute Worte einen bereit gehaltenen Imbiß bei ihm erwarteten. Wir setzten unsere Wanderung durch den erfrischenden Herbstwald fort, und erst da, wo der Wald sich etwas lichtete und einen schwarzspiegelnden, rohrgesäumten Waldteich umschloß, über welchen hinweg während ihrer Anwesenheit allabendlich die Gänse nach den ferner liegenden größeren Teichen wechselten, machten wir Halt, um unser Heil zu versuchen.

Mein Freund Waidmann trat auf eine kleine vorschneidende Landzunge des regungslosen Waldspiegels an den grünflechtigen Stamm einer windbrüchigen Fichte, ich hingegen hinter den wettergrauen, von Brombeerengerank, Schießbeerenholz, Schleh- und Hagedornen umwucherten Ständer des düstern, fast gespenstig still vor mir liegenden Gewässers. Nach unsern Uhren hatten wir gut noch zehn Minuten Zeit vor uns, ehe wir das Kommen der ersehnten Langhälse erwarten durften, und ich hatte sonach noch vollauf Muße, mich den Eindrücken der so ernst gestimmten Natur hinzugeben. Unwillkürlich, schon um den luftigen Pfad der Erwarteten im Auge zu haben, blickte das Auge nach dem freien Himmel über dem in Schweigsamkeit liegenden, tiefscheinenden Naß, in das bereits die scharfgezeichnete Mondsichel niederblinkte. So gänzlich luftstill es auch am Fuße des Waldes und über dem Wasser war, so trieb doch in den höheren Regionen der eisige Nord die dunkeln Wolken in raschem Fluge als phantastische Gebilde dem Süden zu oder ballte sie plötzlich zu dichten Massen zusammen, dann die silberne Mondsichel auf Minuten gänzlich verhüllend. Aber bald löste sich solch’ Chaos wieder, und schon blickte nur hier und da ein den Mond begleitendes Sternlein aus einem frei gewordenen Stück tiefblauen Himmels hernieder. Dabei herrschte aber doch noch so viel Tageslicht, daß man gegen den Himmel recht gut „abzukommen“ vermochte, und erwartungsvoll harrte das gespannte Ohr dem lärmenden Flug und Gegaker der nun jeden Augenblick zu Erwartenden, denn eben erklang der erste schwingende Glockenton vom Abendläuten aus dem fernen Dorfe herüber, die Zeit, wo sie nach meines Freundes Versicherung kommen mußten. Und richtig! Kaum daß die nachfolgenden zitternden Klänge der ehernen Stimmen zu einem Accord verschmolzen, da ward es lebendig in den Lüften und unter geschwätziger Führung kam rauschenden Flügelschlages der Troß der Ersehnten an.

Unbeirrt lassen wir die gar nicht zu hoch über uns weg Ziehenden dahinstreichen, um ihnen die Postenladungen nicht auf den abwehrenden Brustfederpanzer zu schießen, sondern erst hinterher zu entsenden, und so auf sichern Erfolg – das Treffen natürlich vorausgesetzt – rechnen zu dürfen. Mein Freund kam zuerst zum Feuern, obgleich auch meine Schüsse fast gleichzeitig dahinterher donnerten und die Dämmerstille des Waldes durchhallten. Welche Verwirrung richtete aber der nachgesandte Hagel in den beiden Linien der Davoneilenden an! Drei Opfer wurden durch das tödtende Blei jäh aus ihren Reihen gerissen und stürzten schwerdröhnenden Falles zur Erde, während der dadurch in wilde Unordnung gerathene Zug unter wüstem Gelärm höher sich emporschwang und bald in dem nun schon finsteren Gewölk den nachspähenden Blicken entschwand. Doch nun galt es, sich seiner Beute auch zu bemächtigen, was durch die eingetretene Dunkelheit, die der düstere Wald verdoppelte, nicht geringe Schwierigkeiten bot, denn durch das Holz gedeckt, hatten wir der Erlegten Fall nur dem Gehör nach beobachten können, und waren daher ohne Hund in einer mißlichen Lage. Nach vielem Suchen endlich fand

  1. Ein Schaf ist eine zusammenhaltende Schaar.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 734. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_734.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)