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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

No. 48.   1868.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich bis 2 Bogen. Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Das Erkennungszeichen.
Von A. Godin.
(Fortsetzung.)


2.

Es war Christabend. Schaumberg, über Land gerufen, kehrte erst zurück, als schon die Dunkelheit einbrach. An dem klaren, sternenhellen Himmel begann der Mond aufzusteigen, und während der Wanderer voranschritt, fiel das weiße Licht immer breiter auf die schimmernde Schneelandschaft. In dem Dorfe, das Schaumberg eben erreicht, erhellten sich fast zu gleicher Zeit die meisten Fenster; es hatte eben zum Ave Maria geläutet, und um diese Stunde erglänzt den Kindern jener Gegenden Weihnachtsfreude selbst in der ärmsten Hütte.

Eine eigenthümlich weiche Stimmung überkam Otto. Seit Jahren war ihm die Weihnacht nicht mehr lebendig geworden; allein in seinem Zimmer, oder im Gasthof mit Bekannten, hatte er diesen Abend verlebt wie jeden andern. Heut wachte nun auf einmal der alte, süße Kindertraum in ihm auf! Er sah die ihm kaum noch deutliche Gestalt der früh verstorbenen Mutter zwischen geschmückten Tischen auf und ab gleiten, vom Glanz des strahlenden Christbaums beleuchtet – all’ seine Sinne erfüllten ihn mit Weihnachtsträumen! Der eigenthümliche Duft des Tannenbaumes hauchte ihn an, das nichts Anderem vergleichbare Prasseln der Zweige, die, von einem der Lichtchen ergriffen, mitunter anbrannten, streifte sein Ohr. Er hörte den Choral wieder, den die Schwestern mit ihren feinen Kinderstimmen sangen, und ein alter, lang vergessener Spruch, den er selbst hatte vortragen müssen, während sein ungeduldiges Kinderherz der Bescheerung entgegenpochte, klang heute Wort für Wort in seiner Seele wieder.

Wehmuth durchschauerte ihn, er fühlte sich so allein, so verlassen, er sehnte sich aus tiefstem Herzen nach einer Hand, die er drücken könnte, nach einem Auge, das ihn freundlich ansehen möchte. Immer langsamer schlenderte er dahin, tief in Gedanken. Das rasche, kurze Anschlagen eines Hundes störte ihn aus der Träumerei plötzlich auf; vor ihm lag das Forsthaus. Er blieb stehen und sah nach den Fenstern. Sie waren alle dunkel, nur aus dem Zimmer des Revierförsters schimmerte das bekannte Lampenlicht. Schaumberg zögerte einen Augenblick, dann trat er in’s Haus. Er war seit einer Woche nicht mehr dort gewesen, das Eintreffen der neuen Bewohnerin hatte seinen Besuchen den Reiz der Ungenirtheit genommen, so dachte er wenigstens. Heut’ freute er sich auf das Schelten des Revierförsters, es war doch eine bekannte Stimme, es war doch ein Mensch, den er gern hatte. In irgend ein Familienfest einzufallen, fürchtete er nicht, dafür war der Abend noch nicht vorgerückt genug. Mit ein paar Sprüngen war der junge Mann oben; auf sein Klopfen tönte keine Antwort, er schaute in’s Zimmer, es war erhellt, aber leer.

Um nach Andlau zu fragen, ging er hinunter in die Stube der Haushälterin, die nach dem Hofe zu lag; ohne Umstände öffnete er die Thüre, blieb aber sogleich halb verlegen stehen, gefesselt von dem Anblick, der sich ihm bot.

Auf einem langen, mit weißen Tüchern bedeckten Tische stand ein grosser, hellbrennender Christbaum, an dessen Fuß eine kleine, aus vielen Figuren bestehende Krippe aufgebaut war. Geschenke aller Art, Kleidungsstücke, Schulhefte, Püppchen und Weihnachtskuchen, lagen in bunter Reihe den Tisch entlang. Acht oder zehn kleine Mädchen, Dorfkinder, wie es schien, drängten sich mit gespannten, etwas verblüfften Gesichtern um eine schlanke Mädchengestalt, die, dem Christbaum zugewendet und mit der Hand nach der Krippe zeigend, ihnen mit Lebhaftigkeit das Evangelium des Weihnachtsabends erzählte.

In einer Ecke des Zimmers saß Andlau, mit einer langen Pfeife bewaffnet, und einem schmunzelnden Ausdruck, der seinem Löwengesichte wunderlich genug stand. Er allein hatte das Eintreten seines jungen Freundes bemerkt und legte, ihm zunickend, sehr verständlich den Finger auf den Mund. Das Zeichen wäre nicht nöthig gewesen, denn Otto stand lautlos, den Blick unverwandt auf die hübsche, lebendige Gruppe vor ihm gerichtet, vor Allem auf die Hauptperson, die, von all’ den Weihnachtskerzen hell beleuchtet, aussah wie eine Fee im Märchen. Elisabeth war eine strahlende Schönheit, das etwas brünette Gesicht von edelster Form, die hohe Gestalt von plastischer Vollendung. Eben jetzt war das junge Gesicht von froher Erregung lebhaft gefärbt, die braunen Mandelaugen leuchteten vor Freude. Eine nach der Andern führte sie die kleinen Mädchen an den Tisch, beschenkte, erklärte und liebkoste sie dabei so innig und zutraulich, daß die Blödigkeit der Dorfkinder bald in lauten Jubel überging. Bei einer raschen Wendung gewahrte sie indeß plötzlich den jungen Mann, der, noch immer regungslos, wenige Schritte von ihr stand. Sie fuhr heftig zusammen und eine glühende Röthe übergoß ihr Gesicht.

Andlau, nachdem er den Gast in seiner gewöhnlichen lauten Weise begrüßt hatte, rief ihm mit dröhnendem Lachen zu: „Nun, Doctor, sehen Sie sich den Popanz einmal an, der Sie bis jetzt, wie’s scheint, aus meinem Hause verscheucht hat – sie ist nicht wie der Mann im Walde, der die kleinen Kinder frißt, sie giebt ihnen im Gegentheil was zu – essen!“

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 753. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_753.jpg&oldid=- (Version vom 22.11.2021)