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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)


hatte etwas Stilles, Gedrücktes angenommen, was ihn nur selten verließ. Durch gute Musik oder lebhafte Unterhaltung über dieselbe angeregt, loderte zuweilen wie aus verglimmenden Kohlen die alte Flamme seiner Kunstbegeisterung auf. Es war dieses meist der Fall an den Musikabenden, die bei kunstsinnigen Privatleuten, z. B. im Hause des hiesigen Brauereibesitzers Zigra, veranstaltet wurden, wo man in kleinem Künstlerkreise Kammermusik trieb. Da trug Kreutzer mit freundlichster Bereitwilligkeit Clavier-Piecen vor, und wenn er phantasirte, soll noch manchmal aus den Tasten in anziehender liebenswürdiger Weise sein alter Genius hervorgeschwebt sein, zuweilen allerdings ganz, als wolle er wehmüthig Abschied von dem Meister nehmen, denn dieser war nur zu oft gleich nach dem Vortrage wieder still und in sich gekehrt.

Am 14. December 1849, nachdem der Componist wenige Wochen vorher seinen siebenundsechszigsten Geburtstag gefeiert hatte, befreite ihn, wie bereits erwähnt, ein Schlagfluß von einem Leben, an welchem er, wie der ganze Eindruck seiner Persönlichkeit während seines Hierseins bewiesen, wenig Freude mehr empfunden hatte. Da inzwischen der Contract der Tochter mit dem hiesigen Theater abgelaufen und nicht erneuert worden war, so befand sich diese mit ihrer Mutter in der bedrängtesten Lage. Ein zum Besten derselben veranstaltetes Concert lieferte ein Ergebniß, welches wenigstens vor der Hand der äußersten Noth steuerte. Die Tochter soll bald darauf die Gattin eines auswärtigen Kaufmannes geworden sein.

Die „Rigaer Liedertafel“, damals der einzige hiesige Männergesangverein, sorgte für eine würdige feierliche Bestattung des Verstorbenen und ist noch fortwährend die Hüterin seines Grabes.

Friedr. Pilzer.




Wunderliche Heilige.
2. Hänschen Apfelkern und das Siebenttägerkloster in der Wildniß von Cocalico.

Auch der Hinterwald hat seine Romantik, und nur, was bei uns in der alten Welt ein Hauptzug der Romantik ist, Spuk- und Gespenstergeschichten fehlen ihm gänzlich. Sonst giebt’s Ueberfluß an blutigen Stellen, an wilden Lebensläufen, an abenteuerlichen Fahrten. Erinnerungen an finstere Helden der Grenzkriege, an Indianerjäger, wie die schrecklichen Brüder Wetzel, an Renegaten, wie Simon Girty, an Strompiraten, wie Mike Fink, schweben um diesen und jenen Ort. Endlich mangelt es auch nicht an Sonderlingen der verschiedensten Art, namentlich nicht an wunderlichen Heiligen, und von zwei Exemplaren der letzteren Art soll im Folgenden berichtet werden. Beide sind Pennsylvanier, der eine ein Angloamerikaner, der andere ein Deutscher.

Von dem ersten erzählte man mir in dem Buckey-Städtchen Findlay am Rande des Schwarzen Sumpfes in Nord-Ohio, wo man ihn zuletzt gesehen, als die Shawanoes noch in dieser Gegend haus’ten. Sein Name war Jonathan Chapman, gekannter aber war er unter dem Spitznamen Johnny Appleseed, d. h. Hänschen Apfelkern. Er war ein Sonderling von der liebenswürdigen Sorte. Unter dem rauhen gewaltthätigen Volk, das damals hier, an der Grenze der Civilisation, den Wald rodete und den rothen Mann wie den Hirsch jagte, folgte er dem milden Beruf eines Gärtners in der Wüste, indem er ohne Anspruch auf Dank und Lohn die unwirthbare Waldregion durchwanderte, um aus ihr einen Obstgarten zu machen. Von Pennsylvanien mit der weiterrückenden Cultur nach Ohio gekommen, hielt er sich stets auf der Linie zwischen den äußersten Vorposten der Weißen und den letzten Nachzüglern der abziehenden Indianerstämme auf. Hier klärte er auf dem fetten Lehmboden der Flußränder das Unterholz hinweg und pflanzte dann seine Apfelkerne, worauf er den Ort verließ, um wiederzukehren, wenn die Keime zu Bäumchen geworden waren. Kamen dann Ansiedler in die Gegend, so war Johnny mit seinen Schößlingen für sie bereit, die er in der Regel verschenkte oder gegen ein Mittagsessen oder ein altes Kleidungsstück vertauschte. In dieser segensvollen Wirksamkeit fuhr er lange Jahre fort, bis das Land voll von den Früchten seiner Arbeit war und er, gleich jenen grimmen Neuntödterseelen, die den Indianer vertilgten, und gleich jenen rüstigen Rodewalden, die mit Beil und Brand den Urforst niederwarfen, neuen Spielraum für seinen Trieb im fernen Westen suchen mußte, wo er dann verschollen ist.

Johnny war ein kleiner verwachsener Mann mit langem dunklem Bart und schwarzen blitzenden Augen, hastig und ruhelos in Rede und Geberde. Seine Kleidung war meist abgerissen und schmutzig. Zu einer Zeit ging er sogar in einem Kaffeesack von braunem Bast einher, in dessen Boden er Löcher geschnitten, um Kopf und Arme hindurchstecken zu können. In der Regel erschien er barfuß. Seine Kopfbedeckung war ein Blechnapf, der ihm zugleich als Kochgeschirr und Schüssel diente. Als Waffe und Werkzeug führte das originelle Männlein, das in seiner Erscheinung viel Ähnlichkeit mit den Waldzwergen unserer Märchen gehabt haben muß, eine Sichel bei sich. In Sachen des Glaubens war er ein Anhänger Swedenborg’s, dessen Schriften er zugleich mit seinen Apfelbäumen verbreitete, wobei es zuweilen geschah, daß er ein Buch, von dem er nicht genug Vorrath hatte, in zwei Theile zerriß und die beiden Hälften an verschiedene Personen vertheilte.

Durch Strapazen und Entbehrungen aller Art abgehärtet, schlief Hänschen Apfelkern oft während der rauhesten Jahreszeit unter freiem Himmel, und nicht selten soll’s gewesen sein, daß er meilenweit mit bloßen Füßen durch beschneite Gegenden wanderte.

Hieran knüpft sich eine Anekdote von ihm, die recht bezeichnend für sein naives Wesen ist. Einst hielt ein methodistischer Reiseprediger auf dem Markte eines Städtchens am Maumee – wenn ich mich recht erinnere, war’s in Defiance – eine Ansprache an das Volk, in deren Verlauf er ausrief: „Wo ist der in Demuth barfuß einherwandelnde Christ, der auf der Fahrt zum Himmelreich begriffen ist?“ Da sah man plötzlich unseren Johnny, der dem Sermon, auf einen Holzhaufen gelagert, aufmerksam zugehört hatte und die Frage wörtlich nahm, seine nackten Füße emporstrecken, und mit lauter Stimme schrie er: „Hier, mein guter Mann, hier ist er.“

Während manche der damaligen Hinterwäldler, wenn sie einen Indianer niederschossen, nicht mehr Blutscheu anwandelte, als wenn sie eine Fliege todtschlugen, hielt Johnny es sogar für schwere Sünde, ein Thier des Lebens zu berauben, und mehrmals gab er Proben dieser Gesinnung. Einmal begab sich’s, daß er auf dem Gange über eine Prairie von einer Klapperschlange gebissen wurde. Einige Zeit nachher fragte ihn ein Bekannter nach dem Vorfall. Johnny that einen tiefen Seufzer und erwiderte, indem seine Augen sich mit Thränen füllten: „Das arme Ding! Kaum hatte es mich angerührt, als ich, übermannt von gottloser Unduldsamkeit, ihm mit meiner Sichel den Kopf abschlug. Das arme, schuldlose Thierchen!“ Ein ander Mal hatte er sich draußen im Walde ein Feuer angemacht, um sich gegen die Kälte der Herbstnacht zu schützen, die er dort zuzubringen gedachte. Da bemerkte er, daß die Muskitos in die Flammen flogen und verbrannten. Sogleich erhob er sich, füllte jenes Blechgeschirr, welches er als Mütze und Kochtopf zu benutzen pflegte, mit Wasser aus dem benachbarten Flusse und goß das Lagerfeuer aus, indem er sagte: „Verhüte Gott, daß ich rein um meiner Bequemlichkeit willen Ursache werden sollte zum Tode eines meiner Mitgeschöpfe!“

Unser zweiter wunderlicher Heiliger, der eine Anzahl anderer wunderlicher Heiliger um sich versammelte, gehörte anfangs in den Kreis, den der Aufsatz über die Tunker (vergl. Nr. 43, S. 679) geschildert hat. In der Gemeinde dieser Wiedertäufer, die sich am Mühlbach in der pennsylvanischen Grafschaft Lancaster gebildet hatte, befand sich ein gewisser Conrad Beißel, ein Deutscher, welcher nach eifrigem Forschen im Wort Gottes gefunden hatte, daß die Tunker sich einem Irrthum hingaben, indem sie den ersten Tag der Woche feierten, während doch der große Jehova den siebenten heilig zu halten geboten und dieses Gebot niemals aufgehoben hatte. Er veröffentlichte um das Jahr 1725 eine Abhandlung, in welcher er diesen Punkt behandelte. Derselbe rief in der Tunkergemeinde am Mühlbach Aufregung und Streit hervor, und diese Wirren veranlaßten Beißel, sich in


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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 775. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_775.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)