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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

No. 50.   1868.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich bis 2 Bogen. Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Lorenz und Lore.
Von Paul Heyse.


Im Jahre 1854, am 25. Juli, Nachts um elf Uhr – so genau kennen wir den Zeitpunkt, in dem diese eben so wahre als einfache Geschichte begann – hielt die Postkutsche vor dem ansehnlichsten Gasthofe einer kleinen mitteldeutschen Stadt, ohne daß wie sonst der Postillon in’s Horn stieß und Kellner und Hausknecht heraussprangen, die Reisenden in Empfang zu nehmen. Es war nämlich in jenem bösen Cholera-Jahr die Stadt, die bisher immer verschont geblieben, so schwer von der Seuche heimgesucht worden, daß selbst die Handlungsreisenden, die zahlreich in der „Post“ einzukehren pflegten, schon seit Wochen ihre besten Kundschaften versäumten, um nur dem Essig und Chlorgeruch zu entgehen, der Tag und Nacht alle Häuser und Straßen erfüllte. Mehrere Tage schon hatte die Post keinen Passagier mehr gebracht, dagegen täglich in vielen Beiwägen Einwohner der Stadt hinausgeschafft, die in höher gelegenen Oertern des nahen Gebirges Zuflucht suchten, darunter viele schwarzgekleidete Gestalten mit verweinten Augen, bei deren Anblick dem Postillon das Blasen seiner muntern Stückchen verging.

In jener Nacht des 25. Juli führte vollends Einer die Peitsche, der überhaupt sich nicht auf solche Künste verstand, ein junger Mann in schwarzem Rock und grauem Filzhut, der als der einzige Reisende auf der vorletzten Station die Stelle des Schwagers eingenommen hatte, da dieser ebenfalls plötzlich erkrankte, und, bei der großen Scheu, die verpestete Stadt zu betreten, kein andrer Ersatzmann sich finden wollte. Es traf sich, daß der junge Mann als ein Landeskind dem dortigen Posthalter bekannt war, so daß dieser ihm, da er darauf bestand noch heute an Ort und Stelle zu kommen, auf die kurze Strecke unbedenklich den alten Thurn- und Taxis’schen Rumpelkasten anvertraute. Manchen, der ihm auf der dämmerigen Landstraße begegnete, wie er in rascherem Trabe, als üblich war, dahinrollte, mochte ein Schauer überlaufen, wenn er statt des Schwagers in der lustigen Jacke mit den gelben Lederhosen die schwarze Gestalt vom Bock herunter kutschiren sah, als habe nun der Tod leibhaftig das Fuhrwesen übernommen, da die bisherige Beförderung ihm zu langsam gewesen.

Auch der junge Mann konnte sich eines unheimlichen Gefühls nicht erwehren, als es immer finsterer und stiller wurde und endlich nichts mehr zu sehen war, als dicht vor ihm die dampfenden Pferderücken und links und rechts die Steine der Chaussee, über die aus den trüben Wagenlaternen ein ungewisser Schimmer glitt. Er war froh, als die Gäule, die blindlings ihres Weges fortgetrabt waren, endlich vor dem Posthause hielten, übergab dem verschlafenen Hausknecht, den er mühsam herausklopfen mußte, den Wagen sammt dem Briefbeutel, sagte, er werde morgen wieder vorsprechen, um dem Postmeister die nöthigen Aufklärungen zu geben, und schlug dann, sein Reisesäckchen in der Hand, eilig den wohlbekannten Weg ein, der zu seiner Eltern Hause führte.

Nun muß man wissen, daß sein Vater ein ehrsamer Glockengießermeister war, schon in den Siebzigen, der sich seit einigen Jahren zur Ruhe gesetzt, die Werkstatt verkauft und ein behagliches Stillleben begonnen hatte, nur unterbrochen durch Besuche seiner beiden Kinder, der älteren Tochter, die eine Tagereise entfernt an einen Pfarrer verheirathet war, und dieses Sohnes, der seit einem halben Jahr eine Lehrerstelle am Gymnasium der Provinzialhauptstadt bekleidete. Die Mutter, eine Lehrerstochter, hatte ihren Kindern eine sorgfältige Erziehung über die Ansprüche des Handwerkerstandes hinaus gegeben und im Laufe der Zeit auch ihrem Manne, in dem von Hause aus eine reiche künstlerische Ader steckte, seine groben Ecken abgeschliffen, so daß nichts anmuthiger war, als das bejahrte Paar zu beobachten, wie es in seiner späten Mußezeit des Miteinanderlebens erst recht froh wurde. Der Alte, der noch rüstig war, noch immer den schönen Kopf mit den grauen Locken aufrecht auf den breiten Schultern trug, hatte den ganzen Tag in seiner hellen geräumigem Wohnstube etwas zu basteln oder zu bosseln, schnitzte oder formte Modelle zu allerlei kunstreichem Hausgeräth und horchte dazwischen auf das, was ihm seine kleine saubere Frau mit ihrer noch immer wohlklingenden Stimme vorlas. Kam dann die Tochter mit ihrem Manne oder auch nur mit den Kindern auf ein paar Tage zum Besuch und der Sohn, der in Würzburg und Erlangen studirt hatte, konnte ebenfalls eine Ferienzeit benutzen, wieder einmal die Füße unter seiner Eltern Tisch zu strecken, so gab es in dem ganzen Städtchen keine glücklichere und stattlichere Familie, und die Schwester, die den Humor des Vaters geerbt hatte, war froh, einmal wieder ihre pastorale Würde ablegen und das übermüthige lachlustige Kind des Hauses sein zu dürfen, das auch den ernsteren Bruder bald wieder in den alten ungebundenen Ton hineinscherzte.

Diese sonnigen Tage waren plötzlich verdunkelt worden, als die schreckliche Krankheit über das Städtchen hereinbrach. Gleich zu Anfang hatte die Pfarrerin ihre Eltern auf’s Dringendste gebeten, sich in ihre höher gelegene Gegend zu flüchten, wo das Gespenst sich noch nicht hatte blicken lassen. Der Alte, der auch sonst schwer zu lenken war, hatte sich fest geweigert, seine Mitbürger

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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 785. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_785.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)