Seite:Die Gartenlaube (1868) 802.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

Sie schwieg, als wenn das Grauen ihre Stimme erstickte, und saß mit geschlossenen Augen und einem so traurig hülflosen Ausdruck, daß er in tiefer Erschütterung vor ihr stehen blieb. „Lorchen,“ sagte er, und streichelte sanft mit der Hand ihre eiskalten Wangen, „Du redest ganz unsinnige Sachen, und kannst selbst nicht im Ernst daran glauben. Bist Du nicht schon als halbwüchsiges Ding eine so gescheite und aufgeklärte kleine Person gewesen, daß ich, obwohl ich sechs Jahre älter war, all’ meine Angelegenheiten mit Dir besprechen und berathen konnte? Haben wir nicht sogar mit einander Philosophie studirt, bis zur Hegel’schen Logik, die Dir freilich nicht schmecken wollte? Nun schwätzest Du da so abergläubischen Kram, wie ein Bauermädchen, das zur Kartenschlägerin geht und an Hexerei glaubt. Der arme Auditor ist todt, und das ist ein Glück für Dich und vielleicht auch für ihn, und damit gut. Wenn er’ Dich wirklich lieb gehabt hat, wird es ihm nicht einfallen, Dich weiter zu incommodiren, oder Dich gar um Dein junges Leben zu bringen. Das Alles ist nur Nervenspuk und wird morgen vorbei sein. Aber damit Du heute schon Ruhe bekommst, trink’ einmal einen herzhaften Zug aus diesem Glase; solch ein Schlaftrunk hilft gegen alle abergläubischen Träume. Und dann sagen wir uns gute Nacht und regen uns nicht weiter auf durch diese unglückseligen Sterbegeschichten.“

Er reichte ihr das Glas und sie trank jetzt wirklich, noch mit geschlossenen Augen, ein paar tiefe Züge. „Ich danke Dir, Lorenz,“ sagte sie darauf. „Der Wein hat mich sehr gelabt, wenigstens das Herz hat er mir noch einmal erwärmt, wenn auch Hände und Füße schon wie abgestorben sind. Aber das hilft nun nichts, der Tod kommt doch, und nicht blos, weil ich’s dem Christel versprochen habe und den Todtenring am Finger trage.

Ich fühle es zu deutlich: die Lebenskraft hier innen ist aufgezehrt, die Flamme hat alles Wachs schon weggeschmolzen und nagt nur noch am Docht; noch ein Bischen Geflacker und es ist ganz aus. Wenn Du früher gekommen wärst – aber nein, das hätte es auch nicht aufgehalten. Vielmehr fing es ja schon an, an mir zu zehren, als Du das letzte Mal da warst und Dich nicht mehr erinnertest, ob ich auf der Welt sei oder nicht.“

„Was sagst Du da?“ fragte er betroffen. „Als ich zu Weihnachten da war, hätte ich nicht mehr an Dich gedacht? Freilich konnten wir nicht wie sonst beisammen sein. Aber Du weißt ja, daß ich krank hier ankam und die Mutter während der ganzen Festzeit mich nicht aus dem Hause ließ.“

„Einen Schnupfen hattest Du, wie mir Eure Magd sagte, und es war nicht gefährlich, und wenn Dir daran gelegen gewesen wäre, mich zu sehen, hättest Du es wohl so einrichten können, ohne daß die Mutter hätte schelten dürfen. Ich wenigstens, wenn ich nach Jahr und Tag in die Stadt gekommen wäre, wo Du gewohnt hättest – durch Feuer und Wasser wäre ich gegangen, um Dir eine Hand zu geben und zu fragen: ,Wie geht’s? Und hast Du mich noch nicht vergessen?’ Das aber war’s gerade. Du hattest mich vergessen, oder wolltest es gern, und darum ließest Du mir nur, als Du fortreis’test, Morgens ganz früh ein Lebewohl hinübersagen, und es sei zu früh gewesen, um in Person Abschied zu nehmen. Siehst Du, seit jenem Morgen fing es an, seitdem ist mir nicht mehr wohl gewesen und Alles, was an mich kam, Verlobung und Christel’s Tod und der der Tante – das hat nur mitgeholfen an dem, was doch gekommen wäre; und wenn mir auch jetzt Einer eine Arznei brächte, die mich unfehlbar vom Tode retten könnte, ich tränke nicht davon, gewiß, Lorenz, ich machte mir nichts daraus; denn was hilft es, leben zu bleiben, wenn man nicht mehr gern lebt?“

Er stand vor ihr und konnte, während sie diese seltsame Beichte wie halb aus dem Traum oder einer magnetischen Macht gehorchend mit ganz unbeweglichen Zügen vor sich’ hin sprach, die Augen nicht von ihr abwenden. Eine unaussprechliche Rührung überkam ihn, als er dachte, wie lange schon hier in dem engen Hause das junge Leben dieses treuen Herzens nur ihm gehört hatte, während er draußen weit herumgeschweift war, Herz und Kopf voll von hundert neuen verlockenden und verwirrenden Eindrücken, zwischen denen nur selten einmal das Bild seiner Jugendgespielin auftauchte. Es war auch freilich noch halb kindisch und ohne den seltsamen Reiz, der die zarte blasse Gestalt jetzt umgab. Je länger er sie betrachtete, desto lebhafter und zärtlicher wurde das Verlangen in ihm, sie dieser unheimlich nachtwandlerischen Starrheit zu entreißen. Er mußte an sich halten, daß er sie nicht in die Arme schloß, um ihr mit Liebkosungen, wie einem frierenden, verschüchterten Kinde, wieder Lebenswärme einzuflößen.

„Liebste Lore,“ sagte er endlich und meinte etwas recht Tröstliches damit zu sagen, „ich habe es ja wahrhaftig nicht geahnt, daß Dir so viel daran gelegen war. Wenn Du mir nur einen Wink gegeben, einen Zettel hinübergeschickt hättest, daß Du mich gern sehen wolltest –“

„Ja wohl,“ unterbrach sie ihn und nickte still mit dem Kopf, und ihre Stimme klang nicht vorwurfsvoll, sondern wie man etwas Trauriges beklagt, was unabänderlich ist, „das war es ja eben, daß Du keine Ahnung davon hattest, wie es um mich stand, daß in all’ den Jahren, in denen wir Alles getheilt hatten, unsere Kinderspiele und dann so viel Ernsthaftes, Du mich nicht besser kennen gelernt hattest, als jeder Fremde auch. Wie mir das wehthat, Lorenz, das hätte kein Wort ausgesprochen, auch wenn ich meinen Stolz bezwungen hätte, es Dir zu sagen. Nicht daß ich Dir böse darum gewesen wäre. Ich hab’ mir nie viel eingebildet, und darum, weil der Auditor in mich verliebt war wie ein Narr, und auch Andere mir schöne Dinge sagten, glaube nur, darum schien ich mir immer noch nicht so reizend, daß Du Dich hättest bis über die Ohren in mich vergaffen müssen. Aber wenn Du auch draußen Hübschere und Liebere gefunden hattest: daß Du mich darum so wegwerfen konntest wie einen alten Ball, mit dem Du als Knabe gespielt hast und den Du beim Aufräumen in Deinem Kasten findest, das war mehr, als ich verdient hatte, das grub sich mir wie ein eiskaltes Messer in’s Herz und verleidete mir das Leben. Was hätte es da genützt, mich gegen Dich zu beklagen, auch wenn ich’s über die Lippen gebracht hätte? Wäre es darum anders mit Dir geworden? Jetzt, wo ich Alles heraussage, weil doch Alles einerlei und umsonst ist, thut es mir wenigstens wohl, es noch vom Herzen herunterzuwälzen, eh’ ich sterben muß. Du glaubst nicht, Lorenz, welche Last Du mir damit abnimmst, daß Du mich so ruhig und freundlich anhörst. Wie oft habe ich in Gedanken so mit Dir gesprochen und Dir hundertmal meine geheimsten Heimlichkeiten gestanden, und wenn ich dann plötzlich mir vorstellte, ich könnte Dir das einmal selbst sagen, so wie zwei Brautleute sich gestehen, wie lange sie sich geliebt haben, stand nur das Herz still vor Scham und Wonne. Jetzt kann ich Alles sagen, als wärest Du gar nicht da oder ich läge schon in meinem Sarge und schlüge nur die Augen noch einmal auf, da Du gerade dazukämst. Ob es sich schickt oder nicht, daran liegt mir nichts. Du wirst es Niemand wiedersagen, nicht wahr? Und wenn auch: braucht man sich zu schämen, wenn man Schmerzen ausgestanden hat? Schon wie ich Dich unten auf der Straße stehen sah, fuhr es mir durch den Kopf: Gottlob, daß er kommt; nun kannst Du es ihm ja noch mündlich sagen. Ich habe es Dir freilich auch schon geschrieben, gestern Nacht, als ich zum ersten Mal ganz allein im Hause saß und mir so graulig war. Den Brief findest Du dort im Secretär der Tante, und auch ein Blatt dabei, worauf ich geschrieben habe, daß ich Dir Alles vermache, was etwa mir gehört. Ich hoffe, das Gericht wird nichts einzuwenden haben, wenn es auch in der Form nicht ganz recht sein sollte. So, und nun habe ich Dir nichts mehr zu sagen, Lorenz, als eine gute Nacht. Ich bin müde – gieb mir noch einmal zu trinken, ich glaube, ich kann dann einschlafen, ganz schmerzlos, und brauche nie wieder aufzuwachen.“

Sie erhob sich mühsam und näherte sich mit schlaftrunkenen Schritten dem Tisch, an dem er lehnte, keines Wortes mächtig. „Willst Du mir nicht einschenken?“ sagte sie. „Ich fürchte, ich verschütte Etwas; ich kann kaum mehr aus den Augen sehen.“

Dann, als sie getrunken hatte: „Geh Du nun auch schlafen,“ sagte sie. „Ich kann Dir kein Bett anbieten, denn in jedem ist schon Einer gestorben. Aber da auf dem Sopha wirst Du ganz gut liegen und Du kannst Dich mit diesem Tuch zudecken, daß Du bei Nacht nicht frierst. Morgen früh, wenn ich nicht herunter komme, sieh einmal oben nach, es wird dann wohl vorbei sein und Du kannst mir die Augen zudrücken und sorgen, daß ich begraben werde. Nein, laß meine Hand los. Ich bin wirklich zu müde, um mich noch aufrecht zu halten, und wenn ich noch mehr schwatze, so fürchte ich, es wird Unsinn. Gute Nacht, Lorenz. Denk’ einmal an die Lore, wenn Du recht glücklich wirst, und ich danke Dir nochmals, daß Du gekommen bist. Es war doch schön

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 802. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_802.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)