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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

in unserer jungen Zeit, als wir miteinander spielten, und den Abend denk’ ich auch noch wie gestern, als Du die Räuber vorlasest und mir unterm Tisch die Hand drücktest, so oft Karl den Namen Amalia aussprach. Da an diesem Tische war’s, ich sehe noch Alles. Aber ich will gehen und Dich schlafen lassen.“

Sie wandte sich mit einem letzten müden Nicken des Kopfes von ihm ab, nahm den Kater fester in den Arm und ging nach der Thüre.

„Lore!“ rief er ihr nach. „Geh noch nicht! Das Herz ist mir so voll und Dir auch; wie sollen wir schlafen?“

„Es wird schon gehn,“ sagte sie halblaut, „ich bin sterbensmüde. Du sollst mir nicht leuchten, mir auch nicht nachkommen. Diese letzte Bitte darfst Du mir nicht abschlagen. Und jetzt zum letzten Mal, gute Nacht!“

Damit öffnete sie leise die Thür und verschwand draußen auf dein dunklen Flur.

Er blieb in einer Aufregung zurück, wie er sie nie erlebt hatte; so wunderlich war das Süße mit dem Unheimlichen, Grauen und Wonne, bleicher Tod und holdes junges Leben miteinander gemischt. Er hörte sie mit leisen, tastenden Schritten das Treppchen hinaufgehen in ihre Kammer und droben die Thür sachte zumachen. „Lore!“ rief er, als ob sie ihn noch hören könnte, „ist es wahr? So lange schon hast Du mich geliebt?“ – Dann sank er zurück und hundert halbkindische Scenen, bei denen er nie ein Arg gehabt hatte, standen ihm plötzlich vor der Seele und zeugten für die Wahrheit der seltsamen Beichte, die er eben vernommen hatte. Es wurde ihm heiß unter der Stirn, er öffnete ein Fenster und sah in die dunkle Straße hinaus. Der schwarzbehangene Wagen, den die wohlbekannte Gestalt des dicken Leichenkutschers mit dem umflorten Dreimaster im Schritt über das holprige Pflaster lenkte, hielt eben vor einem der Nachbarhäuser. Er hörte, daß Etwas aus dem Haus getragen wurde, und leises Weinen, und dann wieder das Rasseln der Räder, bis sie in die Seitengasse einbogen. So hielt der Tod dicht nebenan seine nächtliche Ernte, und mitten in diesem Leichenfeld war ihm die Blume aufgesprossen, die er nur in seinen Garten zu verpflanzen brauchte, um sie wieder zur Freude aller Menschen frisch aufblühen zu sehn.

Der Schlaf war ihm völlig vergangen; aber seine Glieder, die acht Stunden lang in der Postkutsche durchgerüttelt worden waren, sehnten sich nach einer bequemen Lage. Er schloß daher das Fenster, und nachdem er den Tisch mit der Lampe vom Sopha zurückgeschoben hatte, streckte er sich auf das alte geräumige Polsterbett, ein Kissen unterm Kopf, das große gelbe Umschlagetuch der Tante wie eine Decke über die Füße gebreitet, und begann bei dem schwachen Licht des Lämpchens hinter seinem Haupte allerlei wachen Träumen nachzuhangen, in denen der Todtenwurm im Deckengetäfel nicht störte.

Noch eine Viertelstunde mochte er so gelegen haben, da mußte er aufhorchen auf ein leises Knistern, das draußen die Treppe herunter zu kommen schien. So trefflich er vorhin gegen den Aberglauben gepredigt hatte, konnte er doch jetzt einen leichten Schauder nicht bemeistern, der nur unbehaglicher wurde, als er erkannte, daß es nicht etwa der Kater war, der draußen im Flur nachtwandelte, sondern behutsam schleichende Menschenfüße, die Stufe für Stufe sacht herabtasteten und endlich vor seiner Thür still hielten. Sollte es gar die Lore sein? Aber sie hatte ja so nachdrücklich zu wiederholten Malen von ihm Abschied genommen. Um so mehr erstaunte er, als endlich, nachdem man eine Weile draußen gehorcht zu haben schien, ob er schon schlafe, die Thür leise aufgeklinkt wurde und die Lore wirklich hereintrat.

Das Häubchen war ihr herabgeglitten und hing im Nacken an den lose zugeknüpften Bändern. Statt der unförmlichen, altmodigen Jacke hatte sie ein weißes Nachtjäckchen an, darunter den rothwollenen Rock; die Füße waren nackt. Aber trotz der Verwilderung ihres Anzugs und des lose um die Stirn hangenden Haares war in ihrer Haltung etwas unterwürfig Züchtiges und Scheues, und es schien Lorenz, als hätte er sie noch nie so reizend gesehn.

„Du schläfst noch nicht?“ sagte sie, in der halboffenen Thür stehn bleibend, durch die der Peter sich eben nachschlich. „Nimm mir’s nicht übel, daß ich Dich doch noch einmal störe. Ich kann’s nicht aushalten droben, es fror mich in meinem dunklen Bett, ich dachte dran, ob man auch im Grabe frieren konnte, meine Kräfte schwanden immer mehr, ich hörte ordentlich mit jedem Herzklopfen, wie ein Blutstropfen nach dem andern erstarrte; da kam mir’s plötzlich so furchtbar vor, sterben zu müssen und so allein, daß ich aufstand und mich noch einmal herunterschleppte; denn ich dachte, Du schliefest schon, und wollte mich in einen Winkel zusammenkauern, um doch Deine Athemzüge zu hören. Laß mich nur einen Augenblick mich bei Dir wärmen, dann will ich wieder gehen. Fühl’, wie eisig meine Hände sind, und erst meine Füße! Aber bleib ruhig liegen. Ich setze mich da unten in die Sophaecke und wickle mich einen Augenblick in das Tuch. Ach, Lorenz, muß ich denn wirklich sterben?“

Er hatte sich halb ausgerichtet und ihre kalte Hand ergriffen, um sie in der seinigen zu wärmen. „Lore,“ sagte er, „Du wirst noch lange leben und glücklich sein.“

„Nein!“ erwiderte sie und schüttelte müde den Kopf. „Ich verlang’ es auch nicht. Wie viele Andere gehn auch aus der Welt und sind nie so recht glücklich gewesen! War es denn die Tante? Und was hat mein armer Christel vom Glück gekannt, als einmal ein Stück Kuchen oder eine gute Censur! Und dann mußte er schon fort! Aber wenn man sich auch drein ergeben muß, traurig bleibt es immer, zumal wenn man schon weiß, was für ein Glück man sich vor Allem gewünscht hätte, und hat es so nah, und kann es mit Händen greifen und soll dann in das kalte Grab, ohne nur einmal recht gelebt zu haben!“

Sie schauderte in sich zusammen und zog die eiskalten Füße auf das Sopha hinauf unter das Röckchen. Dabei lehnte sie sich zurück, so daß ihre Schulter an seiner Brust ruhte, da er aufgestützt mit dem rechten Arm sie an sich drückte.

„Wärme Dich,“ sagte er. „Hast Du Schmerzen?“

„Nur hier,“ erwiderte sie leise und legte die Hand auf’s Herz.

Plötzlich traten ihr große Tropfen in die Augen und sie fing so bitterlich an zu weinen, als wären durch die Wärme seines Athems und unter dem Streicheln seiner Hand all’ die erstarrten Schmerzen aufgethaut, die ihr so lange das Herz bedrückt hatten. Immer heißer flössen ihre Thränen, immer heftiger zuckte sie schluchzend in seinem Arm.

„Liebste Lore! Meine süße kleine Geliebte!“ flüsterte er ihr in’s Ohr.

Da schüttelte sie, plötzlich sich fassend, den Kopf. „Es ist zu spät, Lorenz,“ sagte sie. „Aber es thut doch wohl, ach sowohl! Der Krampf hier am Herzen wird ganz still, wenn Du mir so holde Namen giebst. Weißt Du wohl,“ hauchte sie leiser und verbarg ihre nassen Augen au seiner Schulter, „weißt Du, was mich oben nicht hat schlafen lassen? Ich meinte, ich könnte nicht zur Ruhe kommen, wenn ich Dich nicht vor’m Sterben ein einziges Mal geküßt hatte. Ich müßte geradezu aus dem Grabe wieder aufstehen und es nachholen, wenn ich es versäumt hätte. Da wollte ich mich im Finstern hereinschleichen, Dich nur einmal auf den Mund küssen und gleich wieder gehen.“

Er hob in inniger Bewegung ihren Kopf in die Höhe, was sie willenlos geschehen ließ, und seine Lippen suchten ihren weichen Mund. Sie hatte die Augen fest zugedrückt und die Lippen geöffnet, wie Einer, der halb verschmachtet war und schon fast besinnungslos das Leben wieder einsaugt. Dabei athmete sie so tief, daß ihre Glieder bis in die Fußspitzen zitterten.

„Ich danke Dir,“ sagte sie kaum hörbar. Dann ließ sie die Arme von seinem Halse gleiten und sank neben ihm auf das Ruhebett, den Kopf weit zurückgelehnt auf das Kissen, den einen Arm herabhängend über das Polster, daß das schmale Händchen den Fußboden streifte. Er wagte nicht sich zu rühren, da er merkte, daß ihre Athemzüge immer ruhiger wurden. Nach wenigen Minuten war sie fest eingeschlafen.

Nun erhob er sich behutsam, stieg über sie hinweg vom Sopha hinunter und bemühte sich, sie bequem zu betten. Leise hob er den schlanken Leib ein wenig in die Höhe und streckte ihn gerade aus, ohne daß sie davon erwacht wäre. Dann wickelte er ihre Füße fest in das wollene Tuch und breitete zum Ueberfluß seinen eigenen Rock über die Schlafende aus. Ihm war so schwül und beklommen, daß es ihm eine Wohlthat war, in Hemdärmeln neben dem Sopha zu sitzen, zumal nachdem er das Fenster wieder geöffnet und die Nachtluft hereingelassen hatte.

Ein paar Stunden bewachte er so ihren Schlaf und hatte, nachdem die erste Aufregung verflackert war, die stillsten und lieblichsten

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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 803. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_803.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)