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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

Helldunkel, das unter dem warmbesonnten Linnendach webte! Er mußte sich Gewalt anthun, um die Augen wieder abzuwenden, und wenn ihnen Wanderer oder Landleute begegneten und neugierig in den verdeckten Wagen hineinschielten, hätte er ihnen am liebsten zugerufen: „Es ist schon der Mühe werth, zu sehen, was wir da mit uns führen: einen Schatz, ein Goldherz, ein Kleinod von einem Mädchen, dessen ganzer Werth erst im Feuer der schwersten Prüfung an den Tag gekommen ist!“ –

Mit dem Onkel wechselte er nur selten ein Wort. Der alte Mann, ganz in seinen frischen Kummer vertieft, sah stumm vor sich nieder und schien von der Stimmung, in der sein junger Gefährte das schlafende Mädchen betrachtete, keine Ahnung zu haben.

So verging Stunde um Stunde, ohne daß die Lore ein einziges Mal die Augen aufgeschlagen oder auch nur aus dem Traume gesprochen hätte. Es wurde ihrem Freunde fast ängstlich, und da sie Mittags ein paar Stunden rasteten, weil die Pferde Ruhe brauchten und sie selbst hungrig geworden waren, trat er an den Wagen heran, lüftete das Dach ein wenig und rief leise ihren Namen. Ob sie nicht etwas essen wolle, fragte er, und fuhr ihr sogar mit der Hand über die Stirn. Sie schlief bei alledem ruhig fort, und ihre frische Farbe und die gleichmäßigen Athemzüge zeugten dafür, daß ihr nichts Anderes noth that, als eben Schlaf. Der Onkel wußte allerlei Fälle zu erzählen, wo Menschen nach schweren Erschütterungen durch Krankheit oder übermäßige Anstrengung drei Tage und Nächte und noch darüber in Einem Strich geschlafen hätten und hernach frisch und gesund aufgewacht seien. So mußte Lorenz sich in Geduld fassen, was ihm schwerer ward, als er sich eingestand. Denn was ihn aufregte, war durchaus nicht die Sorge, sie möchte überhaupt nicht wieder aufwachen, sondern die Sehnsucht, zu erfahren, ob sie am hellen Tage noch wissen würde, was sie ihm in der Nacht gebeichtet hatte.

Der Tag neigte sich schon und unter dem Wagendach war tiefe Dämmerung, als sie das Dorf erreichten, an dessen Pfarrer Sophie, des Lorenz Schwester, verheirathet war. Eben da der Wagen in den Hof rollte, trat die Pfarrerin aus dem Hause und erstaunte nicht wenig, ihren Bruder so völlig unverhofft wiederzusehen, noch mehr aber, als er schon vom Sitz herab ihr ein Zeichen machte, jeden lauten Ausruf schwesterlicher Freude zu unterdrücken, da Jemand im Wagen schlafend liege. Die Mutter kam indeß dazu, empfing den langentbehrten Sohn mit tausend Freuden und lauschte dann gleich der Tochter mit tiefstem Antheil der halblauten Erzählung, wie Alles gekommen und wen er da im Wagen mitgebracht habe. Nachdem aber der erste Schrecken über alles Traurige, was Lorenz berichtete, überwunden war, behielt bei der Schwester die muntere, lebensfrische Natur die Oberhand. Sie öffnete selbst das Leintuch über dem Wagen und konnte die schlafende Lore, die so rosig wie ein Kind in ihren Kissen lag, nicht genug betrachten. „Wer hätte gedacht,“ sagte sie leise zu dem Bruder, „daß die wilde Hummel einmal so zahm und der unscheinbare magere Zaunstecken ein so allerliebster Rosenstock werden würde! Liegt sie nicht da wie zum Anbeißen und verzieht nur manchmal ordentlich vornehm das Mündchen, wenn eine Fliege sich darauf setzen will? Und jetzt seufzt sie tief aus der Brust, als träume sie von dem Schrecklichen, das sie überstanden hat! So Gott will, ist es nun vorbei, armes Herz, und Du sollst hier gute Tage haben, Wir wollen sie unten in die große Bügelstube legen, meinst Du nicht auch, Mutter? Da sieht sie, wenn sie aufwacht, gleich in den Garten und meint am Ende, sie sei schon im Paradiese. Und ich schlafe die Nacht bei ihr, daß ich gleich bei der Hand bin, wenn sie etwa im Finstern die Augen aufmacht und sich nicht zurechtfindet. Der Lorenz aber soll gelobt werden, daß er so vernünftig gewesen ist, das Kind gleich aufzupacken und zu uns zu bringen. Und was unsere Männer für Augen machen werden, wenn sie vom Spaziergang heimkommen und finden hier das schlafende Dornröschen! Ich stehe nicht dafür, Mutter, daß der Vater sich nicht auf seine alten Tage noch einmal verliebt. Er hatte schon immer über die Straße hinüber ein Auge aus das liebe Gesicht, und hier auf dem Lande, wo er nichts zu basteln hat, kann er leicht aus Müßiggang auf böse Gedanken kommen. Dann muß der Lorenz sehen, wie er die Unheilstiftern wieder aus dem Hause bringt.“

Sie warf dabei ihrem Bruder, der sich erröthend abwandte, einen schalkhaften Blick zu und machte sich eilig daran, das Gartenzimmer einzurichten, Betten aufzuschlagen und den Kindern Schweigen zu gebieten, die lärmend zwischen den Gemüsebeeten spielten. Erst als das Alles beschickt war, rief sie Lorenz und den Oheim zu Hülfe, und eben so behutsam, wie sie das Mädchen hinaufgebettet hatten, wurde sie jetzt vom Wagen gehoben und in’s Haus getragen. Als sie in dem neuen Bette lag, schien es einen Augenblick, als wolle sie wach werden. Sie verlangte zu trinken, öffnete aber, während die Pfarrerin ihr Wasser reichte, die Augen nicht, und gleich darauf sank das Haupt wieder in die Kissen und sie schlief von Neuem.

So fanden sie die heimkehrenden Männer und die Weissagung der Pfarrerin schien einzutreffen. Wenigstens war der alte Meister erst, nachdem er eine halbe Stunde lang so scharf, als ob er es zeichnen wollte, das schlafende Kind betrachtet hatte, aus dem Zimmer wieder herauszubringen, und auch der Pfarrer, ein schlichter, fast schüchterner Mann von wenig Worten, wurde ganz beredt, als Abends am runden Tisch, an dem auch der Onkel Platz gefunden, die Rede natürlich gleich wieder auf die Lore kam. „Mutter,“ sagte Sophie mit drolligem Eifer, „die Hexe muß wieder fort, je eher je lieber. Wir waren bisher doch auch nicht so übel, wenigstens betheuerten es in schwachen Stunden unsere eigenen Männer. Jetzt ist gar nicht mehr die Rede von uns. Ich hoffe nur, sie hat es nicht allein auf die Ehemänner abgesehen, sondern behext auch nächstens einmal einen Junggesellen, daß der sie uns dann vom Halse schafft.“

Der, auf den dieser Pfeil gezielt war, ließ nicht merken, daß er sich getroffen fühlte. Er war heiterer als gewöhnlich, hatte viel zu erzählen, Schulgeschichten und Streiche aus seiner Knabenzeit, bei denen Lore stets eine Rolle spielte, und ging endlich in so fröhlicher Müdigkeit zu Bette, wie ein Mensch, der mit schwerem Kopf und leichtem Herzen von einem lustigen Gelage kommt. Als er am andern Tag, später als gewöhnlich, erwachte, war sein erster Gedanke, wie die Nacht wohl vergangen sein möchte und ob Lore endlich die Augen aufgeschlagen hätte. Er fand die Eltern, den Schwager und den Onkel unten in dem Familienzimmer versammelt, noch ungewiß, wie es stehe. Man hatte am Morgen durch die Thür Sophie mit ihrer Schlafcameradin sprechen hören und erwartete nun jeden Augenblick Beide zum Frühstück eintreten zu sehen. Statt dessen aber kam, nachdem noch eine ziemliche Zeit verstrichen war, die Pfarrerin allein, nicht mit so heiterem Gesicht, wie sie gestern gute Nacht gewünscht hatte, sondern betroffen und nachdenklich. Gegen Morgen, erzählte sie, sei Lore, da die Hähne draußen überlaut krähten, mit einem tiefen Seufzer’aufgewacht und habe sich im Bette aufgerichtet. Sie selbst sei gleich bei der Hand gewesen, habe ihr guten Morgen gewünscht, und da sie erstaunt gefragt, wie sie hieher komme und warum sie nicht mehr bei der Tante sei, nach und nach unter tausend Trostworten und Liebkosungen ihr den Zusammenhang aufzuklären versucht. Ob sie ihn ganz begriffen, wisse sie nicht; denn ohne irgend darauf einzugehen und über das Geschehene ein Wort zu verlieren, sei das arme Kind plötzlich in die heftigsten Thränen ausgebrochen und habe, in ihr Kissen gedrückt, ein paar Stunden unaufhörlich fortgeweint. Das sei nun gewiß gut und heilsam gewesen und sie habe sich auch wohl gehütet, diese erleichternden Thränen durch Zureden und Beschwichtigen hemmen zu wollen. Auch seien sie endlich von selbst versiecht. Aber statt daß nun, wie sie gehofft, das Gefühl der Rettung und der Wohlthat, in reinerer Luft bei befreundeten Menschen geborgen zu sein, sie milde und zugänglich gemacht hätte, habe sich eine Starrheit und Stummheit ihrer bemächtigt, an der die liebevollsten Bemühungen erfolglos abglitten. Sie sei zwar aufgestanden und habe erklärt, daß sie sich ganz gesund fühle, bis auf eine Schwere in den Gliedern. Auch habe sie Lust bezeigt, etwas zu genießen. Aber zum Frühstück herüberzukommen sei sie nicht zu bewegen gewesen und habe auch auf’s Aengstlichste gebeten, daß Niemand, nicht einmal die Mutter, sie aufsuchen möchte, da sie sich unfähig fühle, mit irgend einem Menschen ein Wort zu sprechen.

Der alte Meister, der immer gleich damit bei der Hand war, auf Weiberlaunen zu schelten, und sich überdies sehr viel Macht über kranke Gemüther zutraute, wollte sofort zu dem wunderlichen Mädchen hinüber und vermaß sich, sie in Kurzem zur Raison zu bringen. Dem widersetzte sich die Tochter auf’s Bestimmteste. „Wenn ich,“ sagte sie, „ihr jetziges Betragen mit dem früheren Zustand zusammenhalte, in dem Lorenz sie gefunden, so kommt mir fast die Sorge, daß die Verstörung dieser entsetzlichen Tage

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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 818. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_818.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)