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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

zweiundvierzig Fuß darauf hinunterspringt, zerschmettert sich alle Knochen. Aber das Dirndl! Die Schand’ vor dem Dirndl! – Der Bursche stand dicht am Abgrund, seine scheuen Seitenblicke maßen die Tiefe. „Jesus Maria, und Joseph!“ brüllte er zum Himmel – ein Sprung – man sah noch die Hand, die nach dem Latschenaste griff und daran hinunterfuhr; der Ast schnellte zurück in die Höhe – ein dumpfer Krach – horch! – und weg war er.

Der alte Förster stand da, wie begossen. „Sacrament,“ sprach er halblaut; „diesmal kriegt der Teufel einen warmen Braten; der ist maustodt, wie er hinunterkommt.“ Leise regten sich die Gewissensbisse in der zottigen Brust des Alten: „Hätt’ ihn doch nicht so in die Verzweiflung treiben sollen; Wildern ist eine Todsünd’, den hab’ ich pfeilgrad’ in die Hölle hineingesprengt.“ Es gruselte ihm ein wenig, hinabzusehen; denn solche Klumpen sieht man nicht gerne liegen, die gerade noch lebendig waren und jetzt sind Kopf und Füße nicht mehr auseinanderzukennen. Rathlos schweiften seine Blicke über die Halde hin, die unter dem Steingerölle lag; da klang auf einmal ein Juhschrei zu ihm empor. Er sah Jemand im Fluge über die Haide laufen und dieser Jemand war – sein Gefangener.

Als er außer Schußweite war, blieb er stehen und schwenkte den Hut: „Guten Abend, Herr Förster,“ rief er herauf, „ich bedank’ mich halt schön, daß Sie mich so gutwillig ausgelassen haben. Und noch was möcht ich halt bitten – nit wahr, laufen’s mir fein nit nach und springen’s ja nit über die Wand da ’runter. ’s ist nit wegen mir, ’s ist mir blos wegen Ihnen, denn dös prellt verdammt in die Füß’.“ Dann jauchzte er noch einmal und verschwand im Walde. Der Förster, fuchswild, sprach jetzt gar nicht mehr vom Zuchthaus, sondern gleich von der Hölle. „Wart’ nur, Dich bring ich doch noch in die Hölle,“ sprach er laut vor sich hin; einstweilen aber beneidete er ihn um – solche Knochen.

Der Vater dieses Knochenhelden ist der Hans-Anderl. Das ist des Jungen graues Vorbild, noch jetzt ganz derselbe fidele Schelm, denn wenn der Bub weit weg ist, dann stiehlt der Alte seinem eignen Buben Pulver und Blei und geht selber zum Wildern. Wie sonderbar gucken die grauen schlauen Augen aus dem rußgefärbten „Gefriß“; seine weißen Stoppeln hat er mit schwarzem Wollenbart maskirt und troddelt lustig durch die Morgendämmerung. Er ist der Ueberzeugung, daß Gott die gute Sache begleitet. Für einen Siebenziger geht’s mit dem Steigen noch ganz passabel; erst in der tiefen Mulde, die vom Gipfel des Berges nach Osten neigt, macht er eine kleine Rast. Jetzt heißt es „Oehrl spitzen“. „Horch – jetzt rasselt es. Da kommt schon einer,“ denkt der alte Hans-Anderl und sinkt andächtig auf die Kniee. „Und was für ein Mordskerl von Bock – haha, der kennt mich nimmer, weil er gar so nah vorbeilauft; der meint, der Hans-Anderl steigt ja doch nimmer ’rauf und ein Andrer trifft z’erst nix.“ Dieweil er also dachte, knallt’s und der „Mordskerl“ war eine Leiche. Er versteckte den rühmlich Gefallenen sorgfältig unter den Tannenzweigen, denn zum Hinuntertragen ist er doch zu schwer; „den muß heut’ Nacht der Bub spediren.“

Unterdessen hatten den Schuß, der in einsamer Morgenfrühe weit durch die Berge hallte, zwei Jäger vernommen.

„Das war ein Wilderer,“ sprachen sie und folgten dem Knall. Bald waren sie auf der Höhe des Grates angelangt, wo man in die Mulde hinuntersieht – „bst“ – winkte der eine, „da schau hinab; siehst Du was? Das Tröpfl dort hat geschossen.“ Der andre zog das Fernrohr hervor, und nun konnte man’s ganz deutlich sehen, wie der alte maskirte Sünder zwischen dem Steingeröll herumlungerte – ohne das Damoklesschwert zu ahnen, das über seinem Haupte hing. Es ward beschlossen, ihn zu umgehen, und als sie auf dreihundert Schritte herangekommen, da hieß es – „Halt, Wer da?“

Der jugendliche Alte schnellte empor, wie vom Blitze gerührt, aber statt eine Antwort zurechtzulegen, legte er die Büchse an die Wange. Zu spät – drüben hat’s schon geknallt, das Gewehr fiel ihm aus den Händen und von rücklings stürzte er in’s Gerölle.

Hin ist hin, dachten die Jäger und zogen ihrer Wege, ohne das Opfer lang anzuschauen; in einigen Tagen wird man ihn schon finden. „Wenn sie nur sicher wüßten, wer es war,“ flüsterten die Beiden zu einander. „Am Ende war’s gar der alte Hans-Anderl; das wär’ verdammtes Mißgeschick, denn vor dem seinen Buben ist Niemand sicher. Die Hauptsache ist jetzt nur, daß kein Mensch erfährt, wer ihn erschossen hat; dem Förster wollen sie’s gestehen, aber sonst darf es Niemand wissen.“ Spornstreichs auf heimlichen Fußsteigen liefen sie hinab und klopften an die Thür des Försters.

Der Bericht klang sehr lakonisch. „Herr Förschtner,“ sagten sie, „dösmal hat’s einen z’sammgerissen: grad habn wir ihn niederg’schossen.“ – „Herrgottsacrament,“ polterte der Förster, „schon der Zweite dies Jahr. Was war’s denn für einer, war er geschwärzt, kennt ihr ihn? Hoffentlich ist’s nicht der alte Hans-Anderl, weil’s immer heißt, daß der da droben wildert, das gäb’ viel böses Blut unter den Leuten!“

„Ja, wahrscheinlich wird’s der sein,“ erwiderte der Eine bekümmert, „g’wiß wissen wir’s nit, aber ein alter Kerl ist’s gewesen, soviel haben wir schon gemerkt.“

„Herrgottsacrament,“ brummte der Förster abermals – „wenn der morgen abgeht und seine Leute suchen ihn, das wird eine schöne Suppen geben.“ Mit gesenkten Häuptern standen die beiden Missethäter da und drückten sich lautlos zur Thür hinaus. Es war ein fataler, verdrießlicher Tag im Forsthaus. Der Herr hatte keinen Appetit (obschon es Knödel gab, welche sonst seine Lieblingsspeise waren), der Daxel bekam ganz unmotivirte Prügel und die Kinder verkrochen sich auf den Heuboden, um nicht die Leidensgefährten des Daxel zu werden.

Unterdessen schlug der Hans-Anderl, der oben in der Mulde lag, die grauen Aeuglein auf und – acceptirte die Situation. Es war nur ein Schrotschuß gewesen. Sorgsam untersuchte er die Wunde, fünf oder sechs der fatalen Körner sind im Schenkel stecken geblieben. In Ermangelung eines chirurgischen Bestecks zog der alte Praktikus sein Eßbesteck aus der Tasche und begann mit dem Messer die Operation. Ein Schrot nach dem andern bohrte er aus der Wunde, und als er sie alle sechse hatte, stand er auf und ging von dannen. „Wenn sie nur meinen Gemsbock nicht ‚gestohlen‘ haben,“ dachte er sich, aber Gott sei Dank, der Gemsbock war noch am alten Fleck.

Jetzt kam erst die zweite Frage, ob ihn die Jäger am Ende trotz der Verlarvung erkannten. Dann muß er vor’s Gericht, und die Bauern fürchten das Gericht noch heutzutage mehr, als die Hellenen ihrerzeit den Tartarus. Da galt es einen Meisterstreich auszuführen. Das Forsthaus war etwa zwei Stunden von der Stelle entfernt, wo sie ihn „todtgeschossen“ hatten; wie wär’s denn, wenn er jetzt schnurgerad hinunterstiege und sich beim Förster sehen ließe, um nach irgend einem gleichgültigen Ding zu fragen? Dann kann doch kein Mensch mehr glauben, daß er derjenige gewesen sei, den die Jäger für todt und lebendig auf dem Platze gelassen. – Gedacht, gethan. An einer befreundeten Quelle, die er zugleich als Spiegel und Waschbecken benutzte, wusch er sich das schwarze „Gefriß“, sein Stutzen ward unter einem Stein am Kreuzweg versteckt und das Uebrige – wird sich wohl finden.

Mit der rosigen Laune, die wir immer haben, wenn wir Streiche machen, stieg er herunter und klopfte an das Försterhaus. Dem Förster war das Gespenst des Hans-Anderl den ganzen Tag vor den Augen herumgegeistert, nun konnte er kaum sein freudiges Erstaunen verbergen, als der leibhaftige – Hans-Anderl vor ihm stand.

„Sie haben neulich ein paar Holzfuhren bestellt, Herr Förster,“ sprach dieser in devotem Ton; „ich möchte nur fragen, bis wenn Sie’s haben wollen, weil ich ohnedies gerade in der Nähe bin.“

„Das ist jetzt g’spaßig,“ erwiderte der Förster; „heut haben wir von Dir gesprochen. Es heißt manchmal, Du gingst stark wildern, und heut’ früh hab’ ich munkeln hören, daß wieder Einer wär’ erschossen worden. Und Jemand hat gleich gar gemeint, Du wärst Derselbige.“

„Geh’, laß mich aus, Herr Förster, mit solchem G’spaß,“ sprach Hans-Anderl halb scherzhaft, halb moralisch entrüstet. „Da schauen’s einmal dös Fußg’stell an, wie mühsam ich dahergeh’, da ist’s mit dem Wildern wohl vorbei. So – erschossen haben’s wieder Einen – g’schieht ihm recht, dem Spitzbuben.“

Damit verband er ein ehrfurchtsvolles Compliment und ging seiner Wege. „Das Holz bring’ ich schon morgen,“ rief er durch’s Fenster nach. „Wenn auch Einer hin ist,“ sprach der Förster, „ich bin froh, daß es nur der nicht ist. Aber sehen kann man’s wieder, wie leicht man einem Menschen Unrecht thut. Der alte Krüppel da und Wildern!“ –

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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 828. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_828.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)