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verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

Käfig zimmerte, leimte und ausschmückte, wie er, meines Erachtens, einem Mauerläufer zusagen mußte, mit künstlich nachgeahmtem Felsgestein, Vorsprüngen, Winkeln, Ecken und Schlupflöchern – nun, Sie haben den Käfig ja gesehen. Das war lange bevor ich den ersten „Murspecht“ erhielt; Sie wissen, wie.“

„Gewiß,“ unterbrach ich ihn, „es war der Vogel, welchen Sie in einem Beichtstuhl der Domkirche fingen; ich habe Ihnen ja bereits gesagt, wie sehr gedachter Beichtstuhl seitdem meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat, ich möchte sagen in meiner Achtung gestiegen ist.“

„Nun,“ fuhr er fort, „dieser Vogel starb zu unser Aller Leidwesen, und der Käfig stand wieder leer wie vorher. Ich hatte inzwischen Bekanntschaft gemacht mit allen Sennen auf dem Säntis, denen ich ein Verständniß für meine Absicht zutrauen durfte. Anfangs Juni 1867 erhielt ich Nachricht von dem Neste, dessen Standort ich Ihnen gezeigt habe, und zwar durch Niemand Anderen als unsern Wirth. Die Kunde lautete, daß es wohl möglich sein dürfte, zu dem Neste zu gelangen. Es galt nur, den richtigen Zeitpunkt für die Aushebung zu treffen, da starkbebrütete Eier für mich unbrauchbar sein mußten und allzuflügge Junge mir auch nicht genehm sein konnten; ich trug deshalb unserm Aelpler auf, das Benehmen der alten Vögel am Nistplatze zu beobachten, sich namentlich den Tag zu merken, an welchem die Alten zum ersten Male Atzung zutragen würden: denn an ein Einsehen in das Nest war hier, wie Sie sich selbst überzeugt haben, nicht zu denken. Acht Tage nach diesem durch Beobachtung festzustellenden Zeitpunkte soll das Ausnehmen der Jungen geschehen, inzwischen das Nöthige an Leitern, Tauen etc. herbeigeschafft werden. Die erwartete Nachricht traf zur günstigsten Zeit ein; wir konnten die Ausführung unseres Unternehmens auf den 30. Juni, einen Sonntag, festsetzen, und gerade an diesem Sonntage sollte ein Sängerfest gefeiert werden, welches uns voraussichtlich von allen unnützen Zuschauern befreien mußte.

Noch flimmerten die Sterne, als ich mich am Morgen dieses denkwürdigen Tages auf den Weg machte. Vier Stunden später befand ich mich an Ort und Stelle, viertausend sechshundert Fuß über dem Meere, auf dem schmalen Felsgesimse, welches wir vorhin betraten, am Rande des gähnenden Abgrundes, in welchen wir hinabsahen. Ueber mir, an der überhängenden Felswand, flogen die alten Mauerläufer, Atzung zum Neste tragend, ab und zu.

Angesichts der Felswand kam ich bald zurück von meinem ursprünglichen Plane, mich an einem Seile an der ungefähr dreihundert Fuß hohen Wand von oben herabzulassen. Ich würde, mindestens zehn Fuß vom Neste entfernt, in der Luft geschwebt haben. Also blieb nur ein Zusammenbinden der vier Leitern übrig, welche unsere Gehülfen, kräftige Sennen, ungefähr anderthalb Stunden weit herbei oder richtiger heraufgeschleppt hatten. Das Zusammenbinden war bald geschehen; anders verhielt es sich mit dem Aufstellen. Beim ersten Versuche, bog sich die über siebenzig Fuß hohe Maschinerie fast bis zum Boden herab. Es fehlte eben an Platz zum Handanlegen, überhaupt an jedem Anhaltspunkte. Die starken Alpknechte, gewöhnt, centnerschwere Heubürden stundenweit auf halsbrechenden Pfaden dem Schober zuzuschleppen, erlahmten bei der Aufgabe, diese Leiterverbindung aufzurichten. Wir müssen uns endlich entschließen, diese zuerst in den Abgrund zu versenken und von ihm aus an Seilen emporzuziehen, Zoll um Zoll, Fuß um Fuß. Nach unsäglichen Mühen von der einen, unermüdlichen Bitten und Anfeuern von der anderen, durch mich vertretenen Seite, gelingt es die Spitze der beiderseits mit Haltseilen versehenen Leiter bis in die Nähe des Nistplatzes zu schieben. Bis in die Nähe – das will sagen, nicht weit genug! Eine fünfte Leiter heraufschaffen zu lassen von den bereits unwillig gewordenen Leuten? Unmöglich! Wir müssen uns anders helfen. Mein Blick fällt auf einen Rettungsanker in Gestalt eines riesigen Sägebockes. Dieser wird herbeigeschleppt, mit einem Ende an dem unter der überhangenden Wand angebrachten Heuschober angebunden, mit den Füßen des anderen hart am Rande des Abgrundes in den Boden eingerammt, in das feste Querstück hier ein, dort ein Loch für die Füße der Leiter ausgemeißelt. Nochmals hebt man das Leitergerüste und verbindet es mittels Stricken fest mit dem Sägebocke.

Wer sollte um eines Vogels willen sein Leben auf das Spiel setzen; wer konnte mir über Stand und Lagerung des Nestes in der Felsenspalte genaue Nachricht geben, wie ich es wünschte; wer war genugsam vertraut mit der Behandlung so zarter Geschöpfe? Niemand anders als ich selber! Ich besann mich nicht. Der Pfad vor mir ist schmal und sehr schwankend, der Abgrund hinter mir – doch an ihn denke ich nicht – aber der blaue Alpsee tief, tief unten glänzt herauf, als wolle er mir winken – Albernheit; ich glaube wirklich, ich verspüre etwas wie Gefühlsüberschwenglichkeit in mir: vorwärts! Mit äußerster Vorsicht betrete ich die Leiter; zaghaft fast hebe ich einen Fuß um den andern; leise setze ich ihn auf die höhere Sprosse allein mit jedem Tritte nehmen die Schwingungen der Leiter zu, so straff auch die Sennen die Haltseile anspannen; ich bedarf der vollsten Anstrengung aller Muskeln, um nicht rückwärts weggeschleudert zu werden. Doch die Höhe von etwa fünfzig Fuß ist schon erreicht, das Ziel nahe; – wenn nur die Leiterverbindung besser sein wollte! Aber das erbärmliche Machwerk schwankt immer mehr, immer ärger, wird förmlich lebendig; es knackt, knarrt, ächzt und knirscht aller Enden, über, unter mir – ‚herunter, schnell herunter!‘ kreischen die rauhkehligen Sennen auf: zu spät – denn ich habe den Rückweg bereits aus freien Stücken angetreten.

Was nun? Denken Sie sich meine Niedergeschlagenheit! Alles vergeblich! Es ist zum Verzweifeln. ‚Ja, wenn das Geisbübli von jener Alpe hier wäre,‘ meint einer der Sennen, ‚für den Burschen wäre das eine Kleinigkeit, ein Vergnügen!‘ Die Worte sind Musik in meinen Ohren; es wird hin und her geredet, und das Ergebniß ist der Beschluß, eine Gesandtschaft zu dem kleinen Ziegenkönig zu schicken.

Nach langem, langem Harren erscheint der Ersehnte, ein schmächtiger Knabe von etwa zwölf Jahren mit gewecktem Gesicht, aus welchem ein gefahrtrotziger Zug unverkennbar hervorleuchtet. Er läßt sich den Fall vortragen, besieht und betastet die Leitern, erkundigt sich genau nach der Art und Weise der Zusammenfügung, schaut prüfend in die Höhe, gleichgültig in die Tiefe, und erklärt, die Vögel herabholen zu wollen. Beim Anhören der ernstesten Ermahnungen, mit äußerster Vorsicht verfahren zu wollen, wirft er den Kopf in den Nacken, ohne eine Silbe zu antworten, bindet sich schweigend die Schachtel, in welcher er die Brut bergen soll, um den Leib, winkt den Sennen, auf ihre Posten zu gehen, und betritt die Leiter. Er steigt nicht, sondern klettert wie eine Katze aufwärts; die Leiter biegt sich kaum unter der geringen Last; er hat die Höhe erreicht, ehe wir es geglaubt. Tückisches Geschick: die Leiter ist zu kurz. Doch nicht für ihn. – Stumm aus Furcht, ihn zu stören, sehen wir mit Entsetzen, wie er bis auf die drittoberste Sprosse klettert, den Felsen packt, sich auf die Zehen stellt und nun mit der Rechten blindlings über sich in die Höhle greift. ‚Ich finde Nichts,‘ ruft er zu uns hernieder; trotzdem tastet er weiter. Reiser fallen uns auf die Köpfe; viermal birgt er Etwas in der Schachtel; dann tritt er still den Rückweg an. Wir athmen hörbar auf; über die verwetterten Gesichter der Sennen zuckt es wie ein Lichtstrahl; meine Gewissensbisse mildern sich und machen einer ausgelassenen Freude Raum: der furchtlose Knabe steht wieder auf festem Grunde! Helle Jodler erschallen aus allen Kehlen und klingen wider von den Felsenwänden. In meiner Hand ruht das zierliche Nest mit vier munteren, aber noch sehr zarten Jungen.

Der Abend ist gekommen; die Felsen werfen lange Schatten; ich trete den Heimweg an. Hier, auf unseren Plätzen sitzen die Männer, den Held des Tages in ihrer Mitte, und erquicken sich an dem wohlverdienten Veltliner; ihre Jodler erreichen mich noch, als ich mit meinen Pfleglingen schon im Dunkel des Bergwaldes verschwunden bin.“

„Liebster Girtanner, dieser Bericht darf nicht blos in den Verhandlungen Ihrer Gesellschaft erscheinen! Sollte es nicht möglich sein, Jemand zu finden, welcher hier an Ort und Stelle Felsenwand und Leiter und Sie, die Sennen und das Geisbübli treu und wahr zeichnen wollte?“

„O, das würde der wackere Rittmeyer uns wohl zu Gefallen thun; auf eine Fußwanderung von St. Gallen bis zum Wildkirchli kommt es ihm, einem unserer tüchtigsten Bergsteiger, wahrhaftig nicht an!“

„Damit würde er mir allerdings eine große Freude bereiten; aber nicht blos mir allein, sondern gewiß noch Vielen. Denn sein Bild und Ihre Erzählung behalte ich nicht für mich: sie sind schon jetzt beide für die ‚Gartenlaube‘ bestimmt.“

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1870, Seite 7. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_007.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2019)