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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)


„Ja wohl!“

„Dann muß Savigny sehr krank sein!“

„Freilich wohl – man sagt, er liege im Sterben!“

„Da haben Sie es – Valenciennes beginnt seine Visiten, noch ehe sein Vorgänger todt ist,“ ruft Lemercier. „Er ist wahrhaftig im Stande, zu dem Sterbenden zu fahren und ihn um seine Stimme zu bitten!“

In der That starb Savigny, das letzte Mitglied jener berühmten wissenschaftlichen Expedition, welche Bonaparte nach Aegypten begleitet hatte, wenige Tage darauf. Für Paris war der Mann schon lange todt – er lebte, blind und nervenkrank, auf dem Lande, unfähig zu jeder geistigen Anstrengung, verkommen und so arm, daß ihm die Akademie, deren Mitglieder außer einer jährlichen Pension noch Präsenzgelder für jede Sitzung beziehen, diese Gelder, vielleicht tausend Franken im Jahre, fortbezahlen ließ, wie wenn er bei jeder Sitzung anwesend wäre. Das war der Lohn eines der scharfsinnigsten Forscher, dem zuerst die fruchtbringende Lehre von der Uebereinstimmung der Mundtheile der kauenden Insecten (wie Käfer und Heuschrecken) mit denen der saugenden (Schmetterlinge, Fliegen und Wanzen) und von der Umwandlung jener in diese durch allmähliche Metamorphose zu danken ist.

(Schluß folgt.)




Schulkindkrankheiten oder Schulkrankheiten?
Ohne phosphorhaltiges Gehirn kein Verstand, kein Gemüth, kein Wille, also keine geistige Thätigkeit.
Strafpredigt für Eltern, Lehrer und Schulvorsteher.


I.

Der Weg für die Menschheit zur wahren Freiheit und edelsten Humanität, zur Vernunft und reinsten Sittlichkeit führt durch die Schule. Dieser Weg wird sich aber noch sehr in die Länge ziehen, wenn das Volk nicht weit energischer für die Schule und die Lehrer eintritt, wenn es nicht erfolgreicher für die Unabhängigkeit der Schule und die naturwissenschaftliche Bildung der Lehrer kämpft, als dies zur Zeit geschieht. „Nur wer die Schule hat, hat die Zukunft“, und nur aus Dem, was eine Gemeinde für ihre Bildungsanstalten und ihre Lehrer thut, läßt sich auf den Culturzustand und den Humanitätsgrad derselben schließen. – Was die meisten unserer jetzigen Schulen aus den Menschen in geistiger, körperlicher und moralischer Hinsicht machen, ist nichts weniger als erfreulich und nur damit zu entschuldigen, daß die häusliche Erziehung der Kinder der Erziehung durch die Schule schwer zu überwindende Hindernisse in den Weg legt. Daher kommt es denn auch, daß Tugenden, wie man sie von dereinstigen Republikanern und Materialisten verlangt, nämlich Selbstbeherrschung und Selbstverleugnung, echte Menschenliebe und Ehrgefühl bei klarem Verstande, nur bei Wenigen zu treffen sind und daß zur Zeit Egoismus, Eitelkeit, Herrschsucht und Sclavensinn, Aberglaube, Neid und Mißgunst das Thun und Treiben der meisten Menschen bestimmen. Wie wenig ferner die meisten Schulen dem Volke vom Denken und von den in der Natur, sowie im menschlichen Körper herrschenden Gesetzen beibringen, zeigt sich recht deutlich an den vielen Ausgeburten des Unverstandes, die bei der jetzigen Menschheit so vielen Anklang finden und zu denen der Wunderglaube, der Spiritismus, die Phrenologie, die Homöopathie, der Vegetarismus, die schablonenartige kaltwasserwickelnde Naturheilkünstelei, die Geheimmittelkrämerei, der Communismus und Lassalleanismus etc. gehören.

Jedenfalls ist es sehr schmachvoll, daß die allermeisten Menschen in der Schule so gut wie nichts, oder wirklich nichts, vom Baue, Leben und Pflegen ihres eigenen Körpers lernen und deshalb weder ihr eigenes, noch ihrer Mitmenschen und Nachkommen leibliches Wohl zu schützen und zu fördern im Stande sind, ja auch nicht einmal Interesse an diesem Wohle haben. Anstatt sich die Köpfe über die Größe, Breite, Form und Richtung der Rückenlehne an der Schulbank zu zerbrechen, sollten die Lehrer vor allen Dingen die Einrichtung und das Getriebe im menschlichen Körper kennen zu lernen suchen, um ihren Schülern eine richtige Anleitung zum Gesundbleiben geben zu können und um endlich selbst einzusehen, daß auch bei den zweckmäßigsten Schuleinrichtungen die Schüler doch Schaden an ihrer Gesundheit erleiden müssen, wenn die Lehrer nicht von denjenigen Apparaten des Kindeskörpers genaue Kenntniß haben, die beim Schulunterrichte zum Arbeiten gezwungen werden und unter denen der Apparat für die geistige Arbeit, das Gehirn nämlich, das am meisten zu berücksichtigende ist. Wer der Meinung sein sollte, daß der Erwachsene schon nachträglich sich Das noch aneignen kann und wird, was ihm in der Jugend an Wissenswerthem zur Verstandesbildung vorenthalten wurde, der befindet sich in einem großen Irrthume. Der Unsinn, der Aberglaube, der einmal im Kopfe (Gehirne) eines Erwachsenen von Jugend auf steckt, ist darin so fest gewurzelt, daß er weder durch Vernuftgründe, noch durch Thatsachen wieder herauszuschaffen ist. Ebensowenig legt aber auch der Erwachsene seine Charakterfehler, die der Jugendzeit entstammen, leicht wieder ab. Und deswegen eben muß für die körperliche und geistige Erziehung des Menschen durch das elterliche Haus und die Schule so zeitig als möglich eine feste und bleibende Grundlage für die Zukunft geschaffen werden.

Was für die Zukunft des Kindes häusliche Erziehung thut, kann man daran erkennen, daß für die Eltern der Moment, in welchem sie ihre Kinder zum Schulbesuche für reif halten, der ist, wo die Frau Mama zornig in die Worte ausbricht: „Mit Dir ungezogenem Schlingel ist es aber auch gar nicht mehr auszuhalten, mit Dir ist nicht mehr fertig zu werden!“ „Dir werden sie’s in der Schule schon lehren“ (nämlich das Artigsein). Soll es dann dem Schlingel in der Schule mit dem Stocke wirklich gelehrt werden, so schimpfen schließlich die lieben Eltern noch über die Strenge der Schule und des Lehrers. Daß die Kinder aber gar nicht anders als ganz verzogen in die Schule kommen können, weiß die Erziehung derselben von Seiten der Mutter schon in den ersten Lebensjahren fertig zu bringen. Das Kind ist kaum auf die Welt gekommen, so wird ihm schon durch das Schaukeln, Wiegen und Umhertragen, was es sehr bald, wie später überhaupt alles ihm Behagende, durch Schreien zu erzwingen weiß, Eigensinn, Trotz und Herrschsucht anerzogen, und es dauert nicht lange, so sind die Eltern und die ganze Verwandtschaft durch falsche Nachgiebigkeit zu Sclaven des Kindes geworden. Alle Unarten werden sodann beim unfolgsamen Kinde damit entschuldigt: „Das Kindchen hat ja noch keinen Verstand“, und das wird ja schon besser werden, „wenn nur erst der Verstand kommt.“ Als ob der Verstand zu einer gewissen Zeit in den Menschen hineinführe und, wenn er wirklich ein menschenwürdiger sein soll, nicht vom ersten Tage des Lebens an im Gehirne nach bestimmten Regeln ganz allmählich durch Gewöhnung entwickelt werden müßte. – Ja, die ersten Anfänge strafbarer Laster (des Lügens, Stehlens) finden die Eltern meistens sehr nett, denn das Kind ist dabei „gar so pfiffig und possirlich“. Wird dann später dieses Kind als Dieb bestraft, so wehklagen die dummen Eltern über ihr unglückliches Geschick, das sie mit ungerathenen Kindern heimgesucht hat und was sie sich doch selbst bereitet haben. Nur aus den Erziehungsfehlern, welche in der ersten Lebenszeit des Kindes von den Eltern, zumal von den Müttern, gemacht werden, geht die Charakterverderbniß hervor, die später Eltern und ihre Kinder so unglücklich macht. Man lasse sich doch endlich einmal darüber belehren, daß dem Menschen von Natur zwar ein Organ gegeben ist, mit dessen Hülfe er verständig, sittlich und willensstark werden kann, daß er aber dieses Organ, das Gehirn nämlich, dazu erst gewöhnen muß.

Das gesunde, gehörig eiweiß-, fett- und phosphorhaltige Gehirn hat zwar die Fähigkeit, geistig thätig sein zu können, allein diese geistige Thätigkeit muß in ihm erst erweckt und herausgebildet werden, von Haus aus besitzt es dieselbe nicht. Und dies geschieht mit Hülfe der Eindrücke auf das Gehirn, welche von der Außenwelt durch die Sinnesorgane und Sinnesnerven, von den Empfindungsorganen unseres eigenen Körpers aber durch die Empfindungsnerven in das Gehirn hineingeschafft werden. Vom Eingeborensein eines bestimmten Glaubens, Wissens und Könnens in das Gehirn, von Gut oder Bös, von Schön oder Häßlich ist gar keine Rede. Verbrecher werden ebenso wenig wie edle Menschen geboren, immer nur erzogen, und deshalb wird auch jeder echt menschlich fühlende Gebildete den Verbrecher stets nur als einen Unglücklichen ansehen, der weit weniger für sein Verbrechen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 10. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_010.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2019)