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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

Rosenthaler Thor, in dem alten Voigtlande, wo von jeher die Noth zu Hause ist. Die Unternehmer sind gewöhnlich Frauen aus den niedersten Ständen, welche „Pennenmütter“ heißen, während die Gäste „Pennenbrüder“ und „Pennenschwestern“ genannt werden.

Meist werden zu diesem Zwecke die neuen Häuser benutzt, welche auf diese Weise erst trocken gewohnt werden sollen. Je nach dem Preise hat man die Wahl zwischen einer Bank oder der harten Diele. Zuweilen besteht das Lager in einer Hängematte, die des Abends der Sicherheit wegen heraufgezogen und des Morgens heruntergelassen wird. Man kann sich kaum eine Vorstellung von dem hier herrschenden physischen und moralischen Schmutz, von dem wüsten Treiben in diesen wirklichen Cloaken machen, wo Männer und Frauen untereinander in bunter Gemeinschaft die Nacht verleben.

Eine weitere Unterkunft für die Obdachlosen giebt das „Polizeiverwahrsam“, wohin alle nächtlichen Herumtreiber ohne Unterschied des Geschlechts und des Berufs eingebracht werden. Dasselbe liegt im Polizeigebäude am Molkenmarkte und besteht aus einem Verhörzimmer und zwei größeren Sälen. Statt eines Lagers finden die Detinirten nur einen Sitz auf einer Holzbank ohne Rücklehne. Dabei ist gewöhnlich der Raum so beschränkt, daß sich die unfreiwilligen Gäste kaum rühren können. Jeder Ankommende wird genau nach Namen, Stand, Herkunft, Geschäft und sonstigen Verhältnissen inquirirt und erhält ein eigenes Actenstück, worin seine Personalien eingetragen werden. Nicht minder unangenehm berührt die Gemeinschaft von wirklichen Obdachlosen, notorischen Bettlern, Geisteskranken und solchen Leuten, welche wegen Straßenunfug, Trunkenheit, Widersetzlichkeit oder Unsittlichkeit vorläufig verhaftet worden sind. – Natürlich ist die Gesellschaft eine höchst gemischte; neben ehemaligen Officieren und einst wohlhabenden Kaufleuten, Privatdocenten und Studenten erblickt man heruntergekommene Gewerbtreibende, Schneider und Schuhmacher, neben gebildeten Damen, die einst in der Gesellschaft eine Rolle spielten, feile Straßendirnen, neben der Unschuld das verworfene Laster, neben der Bildung oder wenigstens der äußeren Politur die größte Rohheit und Gemeinheit. Die Behandlung ist für Alle ohne Ausnahme und Rücksicht auf ihren Stand und ihre Verhältnisse dieselbe. Die geringste Widersetzlichkeit oder lärmendes Betragen wird sofort mit Einsperrung in eine enge dunkle Zelle oder gar mit Anlegung einer Zwangsjacke bestraft. Am nächsten Morgen erst werden die Detinirten entlassen, die Kranken in die Charité, verdächtige Subjecte in das Arbeitshaus oder zur Untersuchungshaft abgeliefert. Man kann wohl denken, daß eine derartige Nacht im Berliner Polizeiverwahrsam gerade nicht zu den Annehmlichkeiten des Lebens zählt, abgesehen davon, daß die inquisitorischen Maßregeln, die dabei beobachtet werden, stets einen üblen, verletzenden Eindruck hinterlassen.

Auch das „Arbeitshaus“ bietet den Obdachlosen eine Zuflucht und wird besonders beim Quartalwechsel zur Unterbringung der armen Familien benutzt, welche entweder exmittirt worden sind oder kein Unterkommen finden können. In der Regel dient dasselbe als Gefängniß für unverbesserliche Herumtreiber, Gewohnheitsbettler, Landstreicher und liederliche Frauenzimmer. Schon aus diesem Grunde eignet sich das Arbeitshaus nicht für arme Obdachlose, welche ein augenblicklicher und oft nur vorübergehender Nothstand hergeführt hat. Dazu kommt noch der Uebelstand, daß diese unschuldigen Männer und Frauen förmlich als Gefangene angesehen und behandelt werden, indem sie die vorgeschriebene Gefängnißtracht anlegen und sich solchen Arbeiten unterziehen müssen, die weder zu ihren sonstigen Gewohnheiten noch zu ihrer bürgerlichen Stellung passen. Wie groß aber trotz der gerügten Mängel der Andrang der Obdachlosen ist, zeigen die statistischen Zahlen, wonach im Jahre 1868 sich im Polizeiverwahrsam 14029 obdachlose Männer, 1664 Frauen und 64 Kinder befanden, von denen 13743 Männer, 1331 Frauen und sämmtliche Kinder sich selbst gemeldet hatten, während das Arbeitshaus 132 Familien mit 435 Köpfen und außerdem 1098 einzelne Personen in derselben Zeit aufnahm.

Unter diesen Verhältnissen lag wohl der Gedanke nahe, durch Gründung eines auf humanen Principien beruhenden Asyls dieser dringenden Noth abzuhelfen. Den eigentlichen Anstoß gab auch hier die Gartenlaube durch einen ihrer Artikel über das „Londoner Asylwesen“. Eine hochgeachtete und für alles Gute und Edle begeisterte Frau las den Aufsatz mit dem größten Interesse und bewog ihren Gatten, den Kaufmann Neumann, die hochwichtige Angelegenheit in dem „Friedrichs-Werder’schen Bezirksverein“, dem er als Mitglied angehörte, anzuregen und wo möglich eine ähnliche Anstalt in’s Leben zu rufen. Seine warmen Worte fanden allgemeinen Anklang und eine so günstige Aufnahme, daß sofort eine Commission ernannt wurde, welche bereits am 30. November 1868 eine zu diesem Zweck einberufene Bürgerversammlung, wozu auch der königliche Polizeipräsident und die städtische Armendirection geladen war, die nöthigen Vorlagen machte.

In einem schriftlichen Gutachten nannte der Polizeipräsident Herr von Wurmb die Idee eine so außerordentlich humane und zeitgemäße, daß er ihre Realisirung dringend wünschte, obgleich er die großen finanziellen Schwierigkeiten nicht verschwieg. Auch der Stadtrath Zelle als Vorsitzender der Abtheilung für die Berliner Waisenpflege sprach seine innigste Sympathie für das Unternehmen aus, rieth jedoch aus Erfahrung, sich zunächst nur auf ein Asyl für obdachlose Frauen, Mädchen und Kinder zu beschränken. Mit dieser Ansicht erklärte sich die Versammlung einverstanden, worauf sie vorläufig ein provisorisches Comité wählte, in dem Kaufleute, Fabrikanten, Beamte und Gelehrte, Männer wie Virchow, Borsig, Löwe-Calbe, Prediger Lisco, Stadtrath Zelle, Kaufmann Ravené, Stadtverordneten-Vorsteher Kochhann etc. saßen. Der Vorsitz wurde dem um die Sache hochverdienten Herrn Gustav Thölde übertragen, der durch seinen Eifer und seine Hingebung das in ihn gesetzte Vertrauen vollkommen rechtfertigte.

Eine große Schwierigkeit bot vor Allen die Beschaffung des geeigneten Locals, da sich so leicht kein Hauswirth bereit finden ließ, das Asyl bei sich aufzunehmen. Nach vielem vergeblichen Suchen wurde die frühere Artillerie-Werkstätte an der Ecke der Dorotheen- und Wilhelmsstraße zu diesem Zwecke gemiethet. Zugleich erließ das Comité einen öffentlichen Aufruf an die Bewohner der Residenz, sich durch Beiträge an dem humanen Werk zu betheiligen. Obgleich die Geldspenden anfänglich nur spärlich flossen und von verschiedenen Seiten keineswegs gerechtfertigte Bedenken gegen das ganze Unternehmen erhoben wurden, ging der Verein mit großer anerkennungswerther Energie an die Verwirklichung seiner Idee, nachdem er seine Statuten entworfen und angenommen hatte. Darnach bezweckte der Verein, in Berlin für obdachlose Personen Asyle zu gründen, um ihnen nach Möglichkeit Gelegenheit zur Arbeit zu geben. Zur Mitgliedschaft berechtigt ein einmaliger Beitrag von fünf Thalern oder ein Jahresbeitrag von mindestens fünfzehn Silbergroschen. Die Verwaltung liegt in den Händen eines aus fünfundzwanzig Mitgliedern bestehenden Verwaltungsraths und eines die Geschäfte leitenden Vorstandes von sieben Personen etc.

Unterdeß waren die nöthigen baulichen Einrichtungen, die Legung von Gas- und Wasserröhren, die Beschaffung des unentbehrlichen, höchst einfachen Mobiliars, besonders der sehr zweckmäßigen eisernen Bettstellen so weit vollendet, daß am 3. Januar 1869 das Asyl eröffnet werden konnte. Die erste und an diesem denkwürdigen Tage einzige Person, welche ein Obdach suchte, war ein verlassenes achtzehnjähriges Dienstmädchen. Seitdem sind im Lauf dieses Jahres mehr als dreizehntausend Frauen, Mädchen und Kinder aufgenommen worden.

Der freundlichen Einladung des Vorsitzenden folgend, begaben wir uns an einem kalten Decemberabende in das Asyl, das sich von außen durch ein schwarzes Schild ankündigt. Außerdem werden durch besondere Placate in sämmtlichen Eisenbahnhöfen die Fremden, welche kein Obdach haben, ausdrücklich dahin gewiesen. Wir treten in das kleine Zimmer, wo sich einer der Herren, der die Aufsicht an diesem Tage führt, aufhält und in ein dazu eingerichtetes Buch seine Bemerkungen einschreibt. Außerdem finden wir hier den angestellten Hausvater, der eine Liste über die Zahl der Obdachlosen führt, die jedoch weder nach ihrem Namen und Stand, noch nach ihren sonstigen Verhältnissen gefragt werden dürfen, so daß jede polizeiliche Recherche gänzlich ausgeschlossen ist.

Der würdige Mann, der gegenwärtig diesen wichtigen Posten bekleidet, heißt Pape und hat selbst die schwere Hand des Schicksals kennen gelernt. In jenem politischen Processe gegen Dr. Ladendorf und Genossen zur Zeit Hinckeldey’s wurde Herr Pape zu einer fünfjährigen Gefängnißstrafe verurtheilt, die er in der Anstalt

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 55. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_055.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)