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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

zu Naugard verbüßte. Der uns begleitende Herr Thölde gab ihm und seiner Frau, der guten Hausmutter, das Zeugniß der reinsten Menschenfreundlichkeit und Humanität. Er selbst führte uns zunächst in die Küche, die sich durch ihre außerordentliche Sauberkeit empfiehlt. Hier wird für sämmtliche Obdachlose Abends eine warme Suppe und Morgens der Kaffee bereitet, damit sie nicht nüchtern die Anstalt verlassen. Auf einer Holzbank stehen mehrere Wasserschüsseln zum Waschen des Gesichts und der Hände, wozu jede Aufgenommene verpflichtet ist. Desgleichen muß sie ihr Schuhwerk ablegen, wogegen ihr Pantillen verabreicht werden, die sie am nächsten Tage gegen ihre alte Fußbekleidung wieder umtauscht. Die größte Reinlichkeit wird nach allen Seiten streng beobachtet; zu diesem Zwecke dient eine vollständige Badeeinrichtung, über deren Gebrauch der Hausvater zu bestimmen hat. Die Kleidung darf nicht abgelegt werden; für durchnäßte Kleider dient ein besonderer Raum zum Trocknen, und wenn sich Spuren von Ungeziefer zeigen, so werden die betreffenden Stücke dem Glühofen ausgesetzt. Bis neun Uhr Abends können sich die Besucherinnen in gesitteter Weise unterhalten. Wer Lust zum Lesen hat, findet eine Bibel und die Volksschriften von Ferdinand Schmidt, wer seine Kleider ausbessern will, Zwirn und Nadel, welche die Hausmutter bereit hält. Das Asyl darf von ein und derselben Person nicht öfter als fünfmal im Laufe eines Monats benutzt werden; doch sind Ausnahmen gestattet, die von dem Ermessen des Vorstandes und dem Gutachten des Hausvaters abhängen. Wenn Hausvater und Hausmutter keine besonders ihnen obliegende Verrichtungen in den eigentlichen Asylräumen haben, so halten sie sich in der ihnen angewiesenen Wohnung auf, damit auch der Schein vermieden werde, als ob die zugelassenen Frauenspersonen der Beaufsichtigung unterworfen sind. Beiden ist in ihren Instructionen Schonung und Humanität empfohlen. Auf Wunsch beschäftigt sich der Hausvater mit der Unterbringung der Obdachlosen, und in vielen Fällen ist es ihm auch geglückt, ihnen einen Dienst oder Arbeit zu verschaffen.

Nach Besichtigung der Küche traten wir in den großen Saal, in welchem sich achtunddreißig eiserne Lagerstätten mit Ober- und Unterdecken befinden. Derselbe wird geheizt und zeigte eine Temperatur von ungefähr sechszehn Grad. Hier fanden wir einige zwanzig Personen, die auf den Bänken saßen und sich unterhielten oder mit Lesen und Nähen beschäftigten. Zunächst fiel uns eine Mutter mit ihrem fünfwöchentlichen Säugling auf, der von ihr mit der Milchflasche genährt wurde. Die Milch liefert die Anstalt zu diesem Zwecke. In ihren bleichen Zügen mit eingesunkenen Augen lag eine traurige Leidensgeschichte. In ihrer Nähe stand ein junges Mädchen, eine fast übergroße Gestalt mit einem angenehmen jugendlichen Gesicht. Auf Befragen erfuhren wir, daß sie aus Petersburg sei und nach Dresden reisen wolle. Unbekannt mit den hiesigen Verhältnissen, hatte sie zu dem Asyl ihre Zuflucht genommen. Besonders zahlreich war die Classe der entlassenen und unbeschäftigten Dienstmädchen vertreten, denen das Asyl eine unschätzbare Wohlthat erweist.

Nicht selten geschieht es, daß solche unerfahrene Mädchen bei ihrer Ankunft in Berlin auf der Eisenbahn von gewissenlosen Frauen aufgefangen und durch das Versprechen eines guten Dienstes verlockt werden, sich und ihr Gepäck ihnen anzuvertrauen. Zu spät erfahren die Armen durch die ihnen gestellten Zumuthungen, in welch unsaubere Hände sie gefallen sind. Ihrer Sachen beraubt, hülflos auf die Straße gestoßen, der Verführung ausgesetzt, bietet ihnen das Asyl Schutz und Hülfe. Ein solcher Mißbrauch hatte auch an diesem Abende zwei junge Mädchen aus der Provinz hergeführt, die mit ihren blühenden Wangen und sauberer Kleidung einen angenehmen Eindruck machten und vortheilhaft unter den vielen verkommenen und elenden Erscheinungen hervorstachen.

Ein anderes Dienstmädchen hatte, wie der Vorsitzende uns berichtet, zwei Nächte auf freiem Felde in der Nähe von Moabit zugebracht, wo sie erstarrt von einigen mitleidigen Herren gefunden und nach dem Asyl gebracht wurde. Es gelang dem Hausvater, ihr einen passenden Dienst zu verschaffen und für ihr Unterkommen zu sorgen. Noch glücklicher gestaltete sich das Schicksal eines andern Mädchens, das, zu ihrer Herrschaft von einem Gange zurückkehrend, diese exmittirt und die Wohnung verschlossen fand, so daß ihr nichts übrig blieb, als in dem Asyl zu übernachten. Ihr Schicksal erregte Theilnahme; eine mitleidige, hochgestellte Dame nahm sich der Verlassenen an und hat dieselbe, da sie selbst kinderlos war, als Tochter adoptirt.

Nicht minder groß ist die Zahl der obdachlosen Frauen, unter denen man zuweilen auch Personen aus den besseren Ständen findet, deren Schicksale oft im höchsten Grade interessiren. So erschien vor einiger Zeit in dem Asyl eine Unglückliche mit zwei schönen Kindern, deren ganze Erscheinung und Benehmen sogleich verrieth, daß sie den besseren Ständen angehörte. Wie man von ihr erfuhr, war sie die Frau eines Beamten beim Obertribunal, der sie treulos verlassen und einer andern Geliebten geopfert hatte; da sie nicht in die von ihm verlangte Scheidung willigen wollte. Die Erzählung ihrer Leiden war ein erschütterndes Trauerspiel aus dem bürgerlichen Leben. Herr Prediger Lisco, Mitglied des Vereins, hielt es für seine Pflicht, den Mann aufzusuchen, und sprach mit solchem Eifer und Erfolg für die verlassene Frau, daß eine vollständige Versöhnung stattfand und der verirrte Gatte sein Unrecht erkannte.

Besonders stark wird das Asyl zur Zeit des Wohnungswechsels von Obdachlosen aufgesucht. Nicht selten bringen die Eltern selbst ihre Kinder, während sie sich vergebens nach einer Wohnung umsehen. Zuweilen kommen auch elternlose Kinder, die jedoch nur ausnahmsweise aufgenommen und gleich am nächsten Morgen dem Waisenamte übergeben werden. Zu der Weihnachtszeit erschien eine arme Mutter mit ihrem sterbenden Kinde. Es war dies der erste Todesfall im Asyl, obgleich es an einzelnen Kranken nicht fehlt, welche vorläufig von zwei menschenfreundlichen Aerzten unentgeltlich behandelt und am nächsten Morgen zur Charité gebracht werden. In dem genannten Falle wurde dem armen Kinde die größte Sorge gewidmet. Mit der ihm von der guten Hausmutter geschenkten Puppe im Arme starb das Kind, indem es lächelnd auf die ungewohnte Gabe hinblickte und mit seinen bleichen Lippen flüsterte: „Meine Puppe!“

Derartige rührende und ergreifende Scenen sind hier keine Seltenheit, und die Menschenliebe findet mehr als Eine Gelegenheit sich zu bethätigen. Im Ganzen ist das Verhalten der Obdachlosen musterhaft zu nennen, obschon es auch hier nicht an Ausnahmen fehlt. Excesse können bei den verschiedenen Bevölkerungsclassen nicht gänzlich ausbleiben, obgleich sie nur selten eintreten. So wurde unter Anderm dem Hausvater eine silberne Uhr gestohlen, die man später bei einer Wöchnerin in der Charité fand, welche im Asyl übernachtet hatte. Zuweilen werden auch die den Obdachlosen gewährten Schlafdecken vermißt. Trotzdem muß man die Ordnung und das sittliche Betragen der Mehrzahl anerkennen und die günstigen Zeugnisse bestätigen, welche von verschiedenen Besuchern der Anstalt mündlich und schriftlich ertheilt werden.

Nach und nach hat sich das Asyl warme Freunde und Beförderer durch seine segensreiche Thätigkeit erworben, so daß ihm von allen Seiten Beiträge, Unterstützungen und Legate zufließen. In der kurzen Zeit eines Jahres hat es bereits eine Summe von zwanzigtausend Thalern erworben, für die ein eigenes Haus in der Grenadierstraße angekauft worden ist. Durch den überaus günstigen Erfolg aufgemuntert, beabsichtigt der Verein zunächst ein zweites Asyl für obdachlose Männer zu gründen und überhaupt seine Wirksamkeit über die verschiedenen Stadttheile der Residenz auszudehnen.

Dieser Erfolg legt in der That ein glänzendes Zeugniß für den wohlthätigen Sinn der Berliner ab. In demselben Maße, wie das sociale Elend zunimmt, regt sich auch die allgemeine Menschenliebe. Was im Mittelalter der fromme Glaube that, um der Armuth zu helfen, die Kranken zu pflegen, die Dürftigen zu unterstützen, das leistet jetzt die selbstbewußte Humanität in noch erhöhtem Maße, indem sie sich nicht nur auf palliative Mittel beschränkt, sondern das Uebel an seinen Wurzeln anzugreifen sucht. Diese Bestrebungen verdienen um so mehr unsere Anerkennung, da sie auf dem Principe der Selbsthülfe beruhen und aus dem Schooße des gebildeten Mittelstandes hervorgegangen sind.

Max Ring.




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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 56. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_056.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)