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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

Literaturbriefe an eine Dame.
Von Rudolf Gottschall.
II.

Ich muß Sie heute, Madame, an die Ufer des schönsten deutschen Stromes führen – und Sie folgen mir gewiß willig dorthin.

Vielleicht brütet auf der Ostsee gerade ein düsterer Nebeltag, die sandigen Nehrungen hüllen sich in Schleier; unruhig und mürrisch brandet die Fluth an den steilen Uferhängen; ein naßkaltes Frieren geht durch den Park und leichte Flore schweben um die mächtigen Eichen. Die Bernsteinnixen haben sich zurückgezogen in ihre unterseeischen Gemächer und überlassen das Wellenspiel der Oberfläche den übellaunigen Mächten des Tages.

Da ist es Ihnen gewiß willkommen, Madame, wenn ich Sie auf Flügeln der Phantasie aus so unheimlicher Gegenwart forttrage an den „alten deutschen Rhein“! Denn wer auch nur eine flüchtige Rheinreise gemacht hat, wie Sie, dem blühen doch, schon bei dem Namen des prächtigen Stromes, die anmuthigsten Erinnerungen auf. Sie stehen wieder auf dem Verdeck des Dampfers, sehen das vielthürmige goldene Mainz vorübergleiten und in goldenem Dufte die Rebenhügel des Rheingaues; Sie sehen die Romantik der Felsen und Burgen, welche der gespenstige Mäusethurm in seinen Strudeln bewacht.

Doch mitten durch die Romantik bohrt sich der minirende Geist des Fortschritts seine Bahn, in die Felslöcher zur Rechten und Linken huschen die Locomotiven; aber es sind Felsenthore, die ihren Weg nicht hemmen. Fremdartig gemahnt’s die Lorelei, die noch immer auf hohem Felsenthrone sitzt; auch ihre Zeit ist vorüber, sie verführt uns Keinen mehr! Weiterhin Burg an Burg, bis das mächtige Ehrenbreitenstein die ritterlichen Adler- und Falkenhorste beschämt; freier öffnet sich das Thal, wo die weinreiche Mosel durch ihre Rebenhügel dem Rheine zuströmt. Doch noch einmal verengt es sich; die Siebenberge drängen sich mit ihren reizenden Häuptern an den Fluß; Burgen zur Rechten, zur Linken und mitten im Strome die umschattete Klosterinsel.

So steht das flüchtig genossene Rheinpanorama anmuthig vor jeder Erinnerung, auch vor der Ihrigen, Madame! Man muß indeß am Rhein gelebt haben, um dauernd in der Seele die ganze Frische zu tragen, die der prächtige Strom ausathmet, um mehr in sich aufzunehmen als den duftigen Hauch der Landschaft.

Ich habe meine Jugend verlebt in dem goldenen Mainz. Rebenhügel und Winzerfeste, prächtige Sonnenuntergänge, das Wandeln auf der Rheinbrücke, in den schattigen Gängen der Neuen Anlage, deren idyllischer Friede damals noch nicht durch die aufdringliche Eisenbahn gestört war – das Alles gab meiner Phantasie für immer eine Fülle anmuthiger Bilder, die sie zuweilen noch zur Decoration ihrer nächtigen Träume benutzt. Damals schwärmte ich für Jean Paul, dessen Naturbegeisterung ich auf die schöne Rheinlandschaft übertrug. Und im Vertrauen will ich’s Ihnen sagen, daß ich diese Schwärmerei noch immer theile. Aber plaudern Sie’s nicht weiter aus; denn man könnte mich sonst für einen unreifen Jüngling halten, der weit hinter der Zeit zurückgeblieben ist. Wer liest heute noch Jean Paul? Er ist ja nicht mehr Mode. Und wenn man ihn gelesen hat – man kann in keinem Salon davon sprechen; sein Name verhallt in’s Leere. Man liest ja doch nur, um über das Gelesene sprechen zu können, um sich ein kleines Kopfkissen für die Unterhaltung zurecht zu machen. Ich spreche nicht von Ihnen, Madame! Für Sie ist Lesen Andacht, Cultus, geheime Zwiesprache mit dem Genius der Menschheit, der sich durch seine begabten Priester offenbart.

Damals, wenn ich über die Schiffbrücke am Abend ging, das Abendroth um die Waldgipfel des Taunus schwebte, die Strommühlen vergoldete und in den Fluthen des Rheins sich spiegelte, begriff ich nicht, wie hier Menschen vorübergehen konnten mit dumpfer Seele, Menschen, die mein Entzücken nicht theilten. Jetzt begreife ich das nur zu gut und ein Abendroth muß schon besonders stylvoll colorirt sein oder eine aufgeschlossene Stimmung treffen, wenn es mir in die Seele leuchten soll.

Damals hatte ich einen Freund, den ich innig, überschwänglich liebte, um seiner selbst willen; ich begriff die Helden Schiller’s und Jean Paul’s, Carlos und Posa, Flamin und Horion. Solche Freundschaft ist zur Mythe geworden in unserer Zeit. Wir kennen nur die Freundschaft, die auf Gemeinsamkeit der Interessen beruht, höchstens die Freundschaft der Ressourcen, der Kegelclubs, der Kaffeegesellschaften. Doch jene Ideale sind für mich unlösbar verknüpft mit der Poesie des Rheins.

Und diese Poesie des Rheins trat mir lebendig in dem neuen Romane eines namhaften Autors entgegen, in Berthold Auerbach’s „Landhaus am Rhein“ (fünf Bände). Zwar spielt der Roman nicht in jenen Gegenden, in denen meine Erinnerungen am liebsten verweilen: man muß seinen Schauplatz weiter rheinabwärts suchen, obgleich im Ganzen der Phantasie der Leser hierin die größte Freiheit gelassen ist. Das warme Naturgefühl des Dichters zeigt uns die Rheinlandschaft in aller Magie einer wechselnden Beleuchtung; wir gleiten auf dem Kahne über den stillen Strom und verlieren uns dann in die Schatten der Klosterinsel; wir fahren auf dem belebten Dampfer bei Sonnenschein und Unwetter; wir sehen die Villa Eden mit ihrer Blumenpracht hineingebaut in die herrliche Landschaft oder besuchen die improvisirte Burg, eine Stätte fashionabler Romantik; wir nehmen Theil an den fröhlichen Winzer- und Schifferfesten, an den Gesprächen in den Weinstuben des Städtchens, an dem muntern Leben der Rheinlande. Reizende Arabesken, kleine rothbäckige Bacchanten, mit Rebenguirlanden umkränzt und vollbeerige Trauben in der Hand haltend, umgaukeln den Rahmen der Dichtung und heben sich von ihren düsteren Bildern mit heiterem Lächeln ab.

Die Stimmung der Natur, der Landschaft, des Volkslebens ist in diesem Rheinromane glücklich getroffen – und das ist kein geringes Lob.

Freilich, der Dichter gönnt sich auch Muße, dies Alles mit vollem Behagen auszumalen, mit einer gewissen Schönseligkeit, welche an die Romane Adalbert Stifter’s erinnert. Wie oft gemahnt uns die Villa Eden an die mit wunderbarer Rosenpracht umkleidete Villa in Stifter’s „Nachsommer“! Wie viele botanische Gespräche finden sich in beiden Romanen! Wie breit tritt die pädagogische Tendenz in beiden hervor! Diese Menschen haben Zeit, das Kleinste zu beachten, jede aufgehende Blume im Garten, jede aufgehende Stimmung in der Seele! Das wird Alles mikroskopisch untersucht; die Geheimnisse des äußeren und geistigen Wachsthums werden unter die Lupe genommen. So sanft ist der Wellenschlag der Handlung, so wenig Ruderkraft wird in Anwendung gebracht, daß der Roman mehrere Bände hindurch kaum von der Stelle kommt.

Ich muß Ihnen bekennen, Madame, daß ich sehr geduldig bin, wenn es gilt, ein umfangreiches philosophisches Werk zu Ende zu lesen, daß mich aber bei mehrbändigen Romanen leicht eine unbezwingbare Ungeduld anwandelt, wenn die Helden und Heldinnen lange Capitel hindurch nur spazierengehen und sich unterhalten, und die Handlung sich nach gar keinem bestimmten Ziele hinbewegt. Nennen Sie Das immerhin Ketzerei; doch ich verlange vom Romane in erster Linie einen spannenden Fortgang und lasse mich nicht abspeisen mit geistreichen Gesprächen und ansprechenden Schilderungen. Der Roman ist für das Abendland, was das Märchen ist für den Orient – und wie rasch würde jener Sultan eingeschlafen sein, wenn seine Scheherezade, statt ihm wundersame Geschichten von Fischern, Riesen und Geistern zu erzählen, ihm eine Abhandlung über Rosenzucht vorgetragen hätte!

Ich nehme damit den blos stoffartigen Reiz geistverlassener Romandichtung durchaus nicht in Schutz; doch die Handlung des Romans selbst soll, auf Grund einer phantasiereichen Erfindung, den Gedanken spiegeln und dieser nicht neben dem Strome der Handlung sich ein selbstständiges Bett wühlen.

Auerbach bleibt indeß nur in der ersten größern Hälfte des Romans in den Banden jener oft sinnigen Beschaulichkeit, welche die erfindende Phantasie gänzlich in den Hintergrund treten läßt. In der zweiten Hälfte des Werkes fehlt es nicht an romanhaften Ueberraschungen, und gegen den Schluß hin drängen sich die Ereignisse in solcher Weise, daß ihre Darstellung eine skizzenhafte wird. Diese Ungleichheit der Behandlung, die Windstille im Anfange und der Sturm am Schlusse, ist eine Hauptausstellung, die man gegen den Aufbau des Werkes machen kann.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 90. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_090.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)