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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

In der Brust der weit überwiegenden Mehrzahl der Gefängnißbeamten wird es bei solchen tieftraurigen Scenen immer und immer wieder lebendig. Wenn auch bei den unzähligen Thränen, die er weinen sieht, das Auge trocken bleibt, wenn auch auf alle Klagen, die er ausstoßen hört, kein Wort des Trostes gesprochen wird, wenn kein Naß das Auge trübt, kein Laut dem Munde entschlüpft, keine Muskel das Erregtsein verräth: in der Tiefe der Brust ist es darum doch keineswegs kalt, da arbeitet es unaufhörlich mit gewaltiger, mit unwiderstehlicher Macht zum Mitgefühl und zur Theilnahme an fremdem Leide.

Vielleicht liegt dies darin, daß die Gestalten und die Kundgebungen bei jeder Wiederkehr wechseln, daß sie durch die Individualität und den Charakter des armen Elenden bestimmt werden, und daß, da Beides nur in den seltensten Fällen übereinstimmt, die Bilder immer neu erscheinen müssen. Bei mir ist es wenigstens so gewesen. Und deshalb konnte ich auch bei dem Lesen jener Stelle ein Ergriffensein nicht unterdrücken, weil ich zugleich an den Schmerz denken mußte, welcher der Briefschreiberin durch die Verhaftung des geliebten Mannes bereitet wurde.

Das Lachen des Gefangenen war kein gesuchtes, kein erkünsteltes, es war ungezwungen, natürlich und sogar ansteckend, denn ich konnte bei der ausgelassenen Lustigkeit des Gefangenen und bei den urkomischen Bewegungen, welche das Lachen begleiteten, kaum ernst bleiben.

„Thun Sie sich keinen Zwang an, mein Herr,“ rief der Mann lachend, „nehmen Sie Theil an meiner Freude, es ist ja ein Capital-Spaß, der viel zu reden geben wird. Diese, wie soll ich sagen? scharfsichtigen Wächter der Sittenpolizei sehen in meiner geringen Person einen Vagabunden –“

„Sie irren,“ warf ich hier ernst ein.

„Was, keinen Vagabunden? Nun, dann wohl gar einen Dieb?“

„Auch darin irren Sie,“ versetzte ich noch viel ernster.

„Aber was denn sonst? Giebt es denn noch Schlimmeres?“

„Gewiß, es giebt noch weit Schlimmeres.“

„Aber was denn? Sprechen Sie doch!“

„Sie sollen einen Mord verübt haben.“

Ich sagte das langsam, laut, jedes Wort stark betonend. Der Gefangene schien erschreckt zu sein, er lachte nicht mehr, er war ernst geworden. Diese Aenderung war auffallend, weil sie so urplötzlich eintrat. Was mochte sie bewirkt haben? War es die Schwere der Beschuldigung, oder wohl gar das Bewußtsein der Schuld? Ich konnte die Ursache nicht ergründen, mir war nur so viel klar, daß der Gefangene in seiner Verhaftung nicht mehr einen „Capital– Spaß“ sah.

„Habe ich denn das Aussehen eines – Verbrechers? –“ stammelte er nach einiger Zeit, ohne mich anzusehen.

Er sagte „Verbrecher“, nicht „Mörder“. Fürchtete er sich, dies Wort auszusprechen? Ich gab keine Antwort, ich konnte keine geben.

„Mein Herr,“ sagte er hierauf mit etwas mehr Festigkeit, „Sie haben meine Papiere durchgesehen, meine Papiere, die mich in jeder Beziehung als unverdächtig legitimiren müssen. Ich habe in dem Glauben gestanden, daß es nicht anders sein könne und nicht anders sein dürfe. Ich bin Kaufmann, ich besitze ein umfangreiches Geschäft. Das Verlangen, mit mehreren meiner Geschäftsfreunde persönlich bekannt zu werden, trieb mich von Hause fort. Ich habe den südlichen Theil von Frankreich und fast ganz Deutschland bereist, und war im Begriff, nach Hause zurückzukehren, als mir in Magdeburg eine Mittheilung gemacht wurde, die mich bestimmte, hierher zu kommen, um hier ein für mich nicht unwichtiges Geschäft zu ordnen.“

„Waren Sie schon früher in hiesiger Gegend?“ fragte ich, als der Gefangene eine Pause machte.

„In hiesiger Gegend?“ wiederholte er fragend, dann fügte er rasch hinzu: „ja, ja, aber nicht hier in diesem Orte.“

„Wollen Sie mir sagen, wann das war?“

„Warten Sie, mein Herr,“ sagte er nachdenkend, „es mögen nahezu acht Wochen sein.“

Die Zeit traf so ungefähr mit der zusammen, in welcher der Mord verübt worden war. Mir genügte das, auf den Tag kam es mir gar nicht an, ich hatte auch kein Recht, nach dieser Richtung hin weitere Fragen zu stellen, nur über die Familien-Angelegenheiten des Gefangenen wollte ich noch Näheres erfahren, und dann wollte ich denselben auch vorbereiten auf die Leiden einer vielleicht sehr langen Haft.

„Sie sind verheirathet?“ fragte ich freundlicher als bisher.

„Ja, seit vier Jahren.“

„Und haben Kinder?“

„Einen Sohn, einen bildhübschen und klugen Jungen von drei Jahren, und Aussicht in der Kürze meine Familie um ein Glied vermehrt zu sehen.“

In diesem Augenblicke war mein Gefangener freudig bewegt, sein liebes Kind mußte ihm vor Augen stehen, die Erinnerung mußte ihm alle Freuden vergegenwärtigen, welche ihm aus dessen Besitze entsproßt waren. Ich durfte ihn in dieser Stimmung nicht lassen.

„Wollen Sie mir Auftrag geben,“ sagte ich nach kurzem Bedenken, „Ihre Familie von dem, was Ihnen hier begegnet ist, in Kenntniß zu setzen?“

„Wie meinen Sie? –“

„Ich fragte, ob Sie mir überlassen wollen, an Ihre Frau zu schreiben; ich würde das ausnahmsweise gern thun.“

„Sie wollen mich hier doch nicht zurückhalten?“

„Ich muß das thun!“

„Wie? Sie wollten mich –“

„Einschließen in das Gefängniß wie jeden anderen Gefangenen; ich muß meine Pflicht erfüllen.“

„Aber, mein Herr, ich habe in meinem ganzen Leben nichts gethan, was Sie dazu berechtigen könnte; man kann mir keine strafbare Handlung nachweisen; meine Papiere sind in vollständiger Ordnung, sie legitimiren mich; ich kann und muß verlangen, daß dieselben anerkannt werden und daß man mich ungehindert gehen läßt.“

„Mir steht hierüber eine Entscheidung nicht zu, sagen Sie dies Alles dem Untersuchungsrichter, dem Sie innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden werden vorgeführt werden. Bemerken will ich nur, daß der Besitz der Papiere keineswegs die Möglichkeit einer vertretbaren Schuld ausschließt.“

„Mein Gott! mein Gott! was soll ich thun?“

„Sich in Geduld fügen und ruhig überlegen, was Sie zur Rechtfertigung beschaffen wollen und können.“

„Mein gutes Weib, mein liebes Kind!“

Das waren die letzten Worte, die ich in meinem Zimmer von ihm hörte. Er sagte sie mit allen Zeichen des tiefsten Schmerzes, und verfiel darauf in dumpfes Hinstarren, das ich durch kein Zureden beseitigen konnte.

Die Vorbereitungen zur Einschließung sind für jeden Gefangenen peinlich, sie sind eigentlich weit fühlbarer als das Einschließen selbst, und deshalb stoßen sie nicht selten auf Widerstand, ich möchte sagen willenlos. Sein Muth schien gebrochen, sein Geist erstarrt. Die Erinnerung an Weib und Kind mußte dies bewirkt haben. Ich fragte nicht darnach, ob er schuldig oder unschuldig sei, ich sah in ihm einen Unglücklichen, wie ich deren so viele zu beherbergen hatte, und nahm mir vor, gegen ihn, so weit dies irgend geschehen durfte, die Härte der Haft zu mildern. Er gab mir auch keine Veranlassung, die mich hätte bestimmen können, diesem Vorsatze untreu zu werden; er war still und fügsam und erfüllte alle Anforderungen, welche die Hausordnung an ihn stellte, tadellos. Bei dem Aufsuchen des Materials zur Ueberführung des vermeintlichen Verbrechers waren vielseitige und ungewöhnliche Kräfte in Bewegung gesetzt. Die Thätigkeit dieser verschiedenen Kräfte wurde noch durch pecuniäres Interesse gesteigert, da die Entdeckung des Verbrechers mit einer nicht unansehnlichen Summe Geldes gelohnt werden sollte.

Mein Gefangener war der Criminal-Justiz ein Object von unschätzbarem Werthe geworden, er mußte mit größter Sorgfalt verwahrt und behütet werden, und deshalb war es auch mir zur besondern Pflicht gemacht, persönlich ihn dem Untersuchungsrichter zu den Verhören vorzuführen, ihn überhaupt so viel als nur irgend möglich im Auge zu behalten. Ich erhielt dadurch Kenntniß von allen in der Voruntersuchung ermittelten Thatsachen und konnte mir somit durch eigene Wahrnehmungen ein Urtheil über die Schuldfrage bilden. Ein directer Beweis für die Schuld meines Gefangenen konnte nicht geführt werden, keines Menschen Auge oder Ohr war Zeuge der entsetzlichen That gewesen. Dennoch waren in nicht sehr langer Zeit eine Menge sogenannter Belastungs-Momente zusammengetragen, welche die Unschuld des Gefangenen immer zweifelhafter

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 98. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_098.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)