Seite:Die Gartenlaube (1870) 110.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

de Prusse die Residenz aufgeschlagen. War von dem Einzugstage an die Stadt in nicht geringer Aufregung, so erreichte diese den höchsten Gipfel, als am 4. März 1867, zum ersten Male seit man den Palmenesel der Augustinermönche zu Grabe getragen, sich wieder ein Maskenzug durch die Straßen der alten Handelsstadt bewegte. Nicht weniger als sechsunddreißig Gruppen bildeten denselben und die Hunderttausende von Zuschauern, welche die prächtigen und theilweise überaus komischen Gebilde an sich vorübergleiten sahen, brachen in Rufe der Bewunderung und Heiterkeit aus. War es denn möglich, daß diese Märchenwelt, welche da vorüberzog, wirklich eine Schöpfung weniger Monate durch den Klapperkasten und seine Getreuen sein konnte? War nicht von dem Thronwagen des Prinzen Carneval bis zu der Altweibermühle und den Dresdener Gänsen herab hier ein Verständniß, ein Humor entwickelt, wie man kaum von den eingeweihtesten Carnevalsbrüdern ihn erwarten konnte? Verwundert schaute die ehrsame Hausfrau, welche doch im Laufe ihrer Ehe so mancherlei gesehen und erfahren hatte, auf das Maskengewühl, und das Töchterchen blickte mit unverkennbarem Wohlgefallen auf die schmucken Männergestalten in phantastischen Gewändern, die ihm wohl auch zu ihrer Ueberraschung wie alte Bekannte zunickten. Almoseniere sammelten mit ihren Stangenbeuteln Scherflein der Liebe für die Armen und sie flossen reichlich und haben später tausend Thränen getrocknet.

Bei diesem ersten Carnevalsfeste zeigte sich auch deutlich, daß Leipzig keinen Pöbel hat. Obgleich das Volk zu vielen Tausenden auf den Straßen schwärmte und sich im äußersten Stadium der Fröhlichkeit befand, machte sich nirgends Rohheit bemerkbar, kamen nirgends Excesse vor. Wollte etwa ein Uebermüthiger sich unliebsam machen, so griff das Volk ein und brachte ihn zur Vernunft, ohne daß man dabei die Hülfe der Polizei beansprucht hätte. – Die Großartigkeit des ersten Leipziger Carnevalszuges wurde selbst von der alten Carnevalsstadt Köln anerkannt und zahlreiche Orden des dort herrschenden „Hanswursten“ an die verdienstvollsten Beförderer und Schöpfer des Leipziger Carnevals legten davon Zeugniß ab. Bemerkenswerth bleibt es für alle Zeiten, daß die kleine Stadt Leißnig, trotz alles Kopfschüttelns der Nachbarschaft, der einzige Ort war, welcher sich dem Leipziger Carneval anschloß und aus seinen Mitteln eine Gruppe stellte. Dafür wurde er von dem Prinzen Carneval annectirt und unter dem Namen der Burggrafschaft Leißnig den Erblanden des Narrenreichs einverleibt.

Die Lebensfähigkeit des Leipziger Carnevals war bestätigt, denn die Einwohnerschaft erkannte, welchen Segen er ihr brachte. Was jene Künstler, welche ihn in’s Leben riefen, erwarteten, hatte sich glänzend erfüllt. Der Carneval schuf fröhliches Blut und viel Verdienst, und außerdem hatte Leipzig an ihm eine Errungenschaft erworben, der in der Geschichte der Stadt für alle Zeiten ein ehrendes Gedächtniß gesichert ist.

Dreimal hat nunmehr Leipzig seinen Carneval gefeiert und nächster Tage wird dies zum vierten Male geschehen. Wie schon erwähnt, hat auch die anfänglich nicht geringe Zahl der Bedenklichen und Aengstlichen ihre Vorurtheile abgelegt, und jetzt versteht es sich schon ganz von selbst, daß der Herr Vetter und die Frau Muhme zum Carneval nach Leipzig kommen, und wohnten sie auch zwanzig Meilen entfernt.

Und was die Närrinnen anbetrifft – an denen ist am wenigsten Mangel! Die zierlichen Narrenkappen auf den reizenden Köpfchen, sieht man sie, besonders bei der Theatervorstellung, wie Blumenketten aneinander gereiht, oder während des Zuges durch die Straßen an den geöffneten Fenstern oder in eleganten Wagen mit zurückgeschlagenem Verdeck. Bei dem Corso fungiren holde Frauengestalten der feinen Welt als Verkäuferinnen oder Cassirerinnen und Mancher kauft eine Kleinigkeit im Werthe von wenigen Groschen und legt ein großes Geldstück oder werthvolles Papier in die schöne Hand, nur um einen Blick freundlichen Dankes zu erhaschen. Gewechselt wird nicht; was man für das Kaufobject aus dem Portemonnaie nimmt, gehört den Armen.

Daß Leipzig schon jetzt vom Carnevalstaumel umfangen sei, kann man so eigentlich nicht sagen, denn dazu ist die Bevölkerung zu geschäftlich-praktisch oder mercantil-nüchtern, wie man’s gerade nennen will. Erst das Geschäft, dann das Vergnügen! heißt die Devise. Man wartet, bis es losgeht, und dann ist der Jubel um so größer! Wohl aber giebt es eine alte Garde, welche sich schon zur Granitcolonne vereinigt und im Namen des Prinzen Carneval die Stadt besetzt hat. Sie zählt über tausend alte und junge Burschen, alle fröhlichen Geistes und harmlosen Herzens, deren Officiercorps das Comité bildet. Die Musterungen finden an den Narrenabenden statt und als Uniform genügt die Narrenkappe. Das berühmte Leipziger Schützenhaus enthält den Exercirsaal, wo die Garde, in langen Reihen aufgepflanzt treulich dem Dienste obliegt und dazu Bier trinkt.

Der erste diesjährige Narrenabend fiel noch in die Neujahrsmesse, und dieser Umstand gab einer Menge von Meßfremden Gelegenheit, sich dem fröhlichen Treiben anzuschließen. Sie haben wacker mitgeholfen bei der Huldigung des Narrenprinzen, und man muß sagen, daß ihnen das Zeug dazu wahrlich nicht fehlte. Wurden doch sogar verschiedene dieser Fremdlinge feierlichst decorirt. Wir selbst waren gegenwärtig, als eine Gesandtschaft des Prinzen, in die wunderlichsten Uniformen und Gewänder gekleidet – der Kriegsminister trug Wasserstiefeln – eine Anzahl Auserwählte mit dem Orden „des grünen Affen mit gekreuzten Kugelspritzen und Sauerkraut“ und des „wahnsinnigen Frosches mit der wasserdichten Schleife“ schmückte.

Die Gruppe, welche unsere Abbildung darstellt – wer möchte sie verkennen? Sie ist eine Schöpfung von Künstlerhand, gleich dem Liede ohne Worte, und vergegenwärtigt den Moment, wo das Auditorium dem weisen Unverstande eines großen Redners lauscht, der in einer zur Sprechbühne vorgerichteten Biertonne erwartet, ob ihn rauschender Beifall überströmen, oder die sich langsam niedersenkende Nebelkappe verhüllen und belehren wird, daß er „Blech“ gesprochen hat. Weiter dürfen wir den Vorhang nicht lüften! In der ganzen großen weiten Welt wird die Gartenlaube Leute finden, welchen aus unserer Narrenabend-Gruppe liebe, befreundete Gesichter entgegenschauen.

Und so möge denn Prinz Carneval der Vierte mit seinem reichen Hofstaate bei uns einziehen und auf der Zinne seiner so reizend gelegenen Residenz, des Hôtel de Prusse, das Banner der Narrheit flattern lassen – man wird ihn mit offenen Armen aufnehmen. Bei aller Lust und Fröhlichkeit mag man aber auch nicht vergessen, daß die großartige Schöpfung des Leipziger Carnevals den warmen Herzen einer bescheidenen Künstlergruppe entsprang, daß der Klapperkasten das Kindlein groß zog und dasselbe zu seinem Urgroßvater Niemand anders hat als – den Palmenesel der lustigen Augustinermönche im Kloster zu Sanct Thomas!

Otto Moser.




Aus eigener Kraft.

Von W. v. Hillern geb. Birch.
(Fortsetzung.)

„Gnädige Frau,“ tönte die Stimme eines Dienstmädchens, „der Herr Candidat schickt mich, der junge Herr sind so krank, – ob Sie nicht aufstehen möchten?“

„Alfred, barmherziger Gott!“ rief Adelheid. „Ja, ich komme gleich, gleich!“

Wäre nur erst das verwünschte Diadem herunter gewesen; sollte es an ihr hängen bleiben und die Schande dieser Stunde verrathen? Wie eine ätzende Flüssigkeit hatte sich der Ruf, daß Alfred krank sei, über Silber, Gold und Steine ergossen und Alles geschwärzt, was eben noch so hell geglänzt. Erschrocken flüchteten sich die Dämonen des Dumas’schen Romans in ihre Blätter zurück; das Diadem ward mit sammt den Haaren herausgerissen, da es nicht gutwillig ging, und verächtlich, als sei es plötzlich zu Blei verwandelt, in sein Behältniß zurückgeschleudert. Der nächtige Traum mit seiner Farbenpracht war zerronnen, und aufgewacht war ein zärtliches, zuckendes Mutterherz. Kaum wissend, was sie that, wand Adelheid ihre Haare mit beiden Händen in einem dickem Strange um den Kopf und zog ein weißes Häubchen darüber. Ihren

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 110. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_110.jpg&oldid=- (Version vom 11.3.2023)