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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)


Frau Hösli athmet nicht mehr, ihr Herzschlag setzt aus.

Frank wirft die Schleuder versuchsweise nach dem Kinde, sie ist zu kurz, er zieht sie zurück und wickelt noch ein Stück des Seils von seinem Arme ab. Er zielt nochmals, diesmal reicht es. Der Stein fliegt weit über Aennchen hinaus. Jetzt erhebt er sich auf dem schmalen Sims hoch auf seine Kniee, ein tiefer Athemzug lüftet seine breite Brust und findet da unten in der Tiefe ein hundertfaches Echo. Mit der Linken hält er sich an der Außenseite der Mauer und die mächtige Rechte holt aus. Zwei, drei Mal beschreibt der nervige Arm einen Kreis durch die Luft, der ganze Körper wird zur Muskel, das zielende Auge tritt weit aus seiner Höhle wie das des Raubthiers auf dem Sprunge und jetzt – ein gewaltiger Wurf – „halt Dich fest!“ Der Lasso ist geschleudert und in immer kleineren Kreisen wickelt sich der schwingende Stein fünf, sechs Mal um den Leib des Kindes, so lange der Strick reicht, daß das Kind ganz davon eingeschnürt ist.

„Halt Dich fest!“ ruft Frank noch einmal und zieht an, ob der Strick sicher ist für das, was er jetzt wagen will. Die Schlinge hält die Probe aus, sie ist unlöslich, er kann sich auf sie verlassen.

Einen Augenblick verschnauft er, dann stemmt er sich fest gegen die Mauer. „Laß los!“ befiehlt er, das Kind wagt nicht, ihm zu gehorchen, ein Ruck und er reißt es von dem Balken los, ein Schrei des Entsetzens: „Es fällt!“ aber nur, so weit der Strick es erlaubt, an dem es hängt, dessen anderes Ende Frank sich um den Arm gewunden. Der Ruck des abwärts wuchtenden Seils mit seiner Last war zu jäh. Frank verliert fast das Gleichgewicht. Die Menschen da unten drängen sich zusammen und fassen einander unwillkürlich bei den Händen, als wolle Einer den Andern halten für die da oben, die er nicht halten kann. Aber Frank hat den Prall parirt und bleibt fest. Er läßt sich wieder in eine sichere Lage nieder, wo er beide Hände frei hat, und windet das Seil vorsichtig zu sich auf. Jetzt faßt er das Kind am Arme und zieht es empor an seine Brust. Nun ist es geborgen!

Wie ein Donner aus der gespannten Gewitteratmosphäre brach jetzt die langgverhaltene Aufregung hervor und ein Jubel durchzitterte die Luft, der kein Ende nehmen wollte, ein Weinen und Lachen, Sichumarmen und Herzudrängen! War Aennchen doch in dieser qualvollen Stunde eines Jeden Kind geworden, hatte doch in der überstandenen Angst ein Jeder es gleichsam selbst geboren. Aber noch war nicht Alles vorüber. Noch mußte der Mohr ja mit dem Kinde herunterkommen aus seiner schwindelnden Höhe. Doch das war nur eine kleine Sorge, denn die Feuerwehr konnte nicht mehr lange ausbleiben, die brachte sicher Hülfe.

Und es vergingen auch nur noch wenige Minuten ungeduldiger Erwartung, während Frank ruhig da oben saß und das Kind, das von dem Schreck ohnmächtig geworden, tausend Mal herzte und küßte. Da rasselten endlich die schweren Wagen im Galopp einher und Alles stürzte ihnen entgegen. Man riß die ungeheueren Feuerleitern herab und drei derselben wurden neben einander angelegt. Zwei Feuerwehrmänner eilten hinauf, Frank beizustehen. Alles drängte sich herzu, die Leitern zu halten. Die Menge war so dicht eingekeilt, daß Frau Hösli ausgeschlossen blieb und von ferne stehen mußte.

Jetzt bestieg Frank mit Aennchen die letzte steile Bahn. Aber ihm rechts und links zur Seite stützten ihn die Feuerleute, daß er nicht strauchle, und es war auch nöthig, denn die übermenschliche Anstrengung machte sich geltend und den starken Mann überflog jetzt ein Zittern, daß die Leiter unter ihm schwankte, Näher und näher kam für die gemarterte Mutter die selige unglaubliche Gewißheit. Noch stand sie aufrecht und zählte die Stufen, die Frank zurückzulegen hatte: jetzt noch etwa zehn – jetzt nur noch drei – jetzt war er unten! Und als wollten sie ihn vor Freude zerreißen, fielen die fiebernden Menschen über ihn her. Er aber wehrte sie stumm von sich ab und schritt auf die Mutter zu, ihr das Kind zu bringen.

Sie taumelte ihm entgegen, aber sie konnte Aennchen nicht mehr in ihren Armen empfangen, das Maß ihrer Kraft war erschöpft, sie wollte noch etwas sagen, aber sie konnte nicht. Lautlos stürzte sie Frank zu Füßen und drückte ihre Lippen auf seine blutende Hand.

(Fortsetzung folgt.)




Literaturbriefe an eine Dame.
Von Rudolf Gottschall.
III.

Sie besinnen sich, Madame, auf den kleinen Philologen, der, so lang er in der benachbarten Gymnasialstadt Lehrer war, Sie öfter auf Ihrem Schlosse besuchte. Ihm voraus ging der Ruf einer außerordentlich tiefen Gelehrsamkeit, namentlich im Fache der altclassischen Dichtung. Wir hatten allen Respect vor dieser Gelehrsamkeit; aber wir konnten uns ihren Vertreter nicht zusammendenken mit der Dichtung alter und neuer Zeiten. Es wehte uns immer so urprosaisch an in seiner Gegenwart, als ob alle Grazien und Musen vor ihm Reißaus nehmen müßten. Die wasserblauen Augen unter den Brillengläsern hatten jene nixenhafte Kühle, die man sich bei weiblichen Sirenen eher gefallen läßt, als bei männlichen Größen; denn eine Undine, welcher die Seele fehlt, kann immer noch, wie wir aus alten und neuen Erfahrungen wissen, einen verführerischen Zauber ausüben.

Er sprach wenig, nur selten setzten seine Worte die zahlreichen Falten des pergamentenen Teints in netzförmige Bewegung, und wenn er sprach, so geschah es so nachdrucksvoll langsam, mit so gewichtiger Bedachtsamkeit, daß seine Rede stets von den Gedanken der Zuhörer überflügelt wurde und daß wir Alle längst am muthmaßlichen Ende der Periode angekommen waren, während er sich noch mit einigen rebellischen Zwischensätzen herumschlug. Wie oft gaben Sie mir einen heitern Wink, Madame, zum Zeichen, daß Sie die unwillkürliche Komik dieser salbungsvollen Weisheit empfanden und bei mir die gleiche Genußfähigkeit voraussetzten! Wir konnten den Gedanken nicht fassen, daß dieser Lehrer seine Schüler für die heitere Lebensweisheit des Horaz, für den schwunghaften Patriotismus des Virgil und die genialen Göttergeschichten des römischen Heinrich Heine, des kecken Ovidius Naso, erwärmen könne.

Gleichwohl hat unsere profane Kritik jenem Gelehrten Unrecht gethan. Die Männer von Fach haben seine Bedeutung anerkannt; ihm ist der Lehrstuhl der Philologie an einer Hochschule anvertraut worden. Und diese Hochschule ist weit entfernt von Ihrem Schloß, Madame; Sie müssen jetzt seines lehrreichen Umgangs entbehren. Er selbst wird sich ebenso rasch darüber zu trösten wissen; denn er hatte keinen Sinn für Naturschönheiten und blieb kalt in Ihrem herrlichen Park, in dem weitschauenden Felspavillon und, was noch unverzeihlicher ist, selbst in Ihrer liebenswürdigen Nähe.

Sie werden mich fragen, Madame, warum ich das etwas farblose Bild des ehrenwerthen Mannes heraufbeschwöre und gleichsam als Vignette vor diesen Literaturbrief setze? Weil er mir eine willkommene Anknüpfung giebt, das Verhältniß der Gelehrsamkeit zur Dichtkunst zu besprechen, und auf einige neue Gestaltungen desselben hinzuweisen, die Ihnen gewiß sehr fremdartig vorkommen werden. Ohne Frage bedürfen die Dichter der Griechen und Römer des Commentars, und wenn auch oft durch die umhertastende Gelehrsamkeit der Flügelstaub von ihren Schwingen abgestreift wird, so sind doch die Verdienste unserer Gelehrten um Erläuterung jener unsterblichen Meisterwerke des Alterthums, um die Kenntniß der alten Culturwelt, ihrer Sprachen und Sitten hoch anzuschlagen. Ein unversiechlicher Quell geistiger Bildung entströmt ihnen, und noch heutigen Tags wird man es dem modernsten Schriftsteller anmerken, ob er die hohe Schule durchgemacht hat oder nicht; denn nur sie gewährt eine wahrhaft geläuterte Geschmacksbildung. Die dichterischen Werke der geistreichsten Autodidakten zeigen oft Risse und Sprünge, denen man es gleich anmerkt, daß sie aus dem Mangel jener unerschütterlichen Grundlage hervorgehen. Es haben zwar jene mächtigen Bauten der geistigen Könige des Alterthums auch vielen Kärrnern zu Thun gegeben; es sind unglaubliche Schuttmassen überflüssiger Weisheit zusammengekarrt worden; es haben sich jene parasitischen Berühmtheiten gebildet, die nur von dem Ruhm der anerkannten großen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 182. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_182.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)