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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)


schlossen sich die Arbeiter an. Voraus zogen die Chöre mit ihren von Trauerflor umhüllten Fahnen. Es war ein Zug von der Länge einer halben Stunde. Als sie an der Fabrik vorbeikamen, wurde einen Augenblick Halt gemacht. Die Unglücksstätte war mit grünen Reisern und schwarzen wallenden Fahnen geschmückt, seitwärts lag noch immer der geborstene Kessel wie ein Kämpfer auf dem Schlachtfeld, der zugleich mit seinem Opfer den Tod gefunden.

Unter den Tannen und Fahnen hatte sich das städtische Orchester aufgestellt. Posaunenstöße empfingen den Sarg, daß es von den Bergen wiederhallte wie ein Echo des furchtbaren Schlachtgesanges, mit dem vor drei Tagen das empörte Element seine Bande sprengte. Aber es war nicht der Donner wilder Verwüstung, es war der alte Choral „Eine feste Burg ist unser Gott!“ Es klang fast wie ein Hohn, dies Lied, auf dem Schutthaufen, der eines braven Mannes Fleiß und Hoffnung begraben. Aber es war doch kein Hohn, denn wo die Erde wankt und Menschenwerk und Glück zusammenstürzt, da baut der Glaube auf den Trümmern weiter, und keine äußere Macht erschüttert seinen Grund!

Die letzten Töne waren verhallt. Die Musiker folgten der Leiche, Alles war vorüber. Es war still und einsam auf dem Schutt. Die schwarzen Fahnen rauschten leise im Winde und verscheuchten die Vögel, und mit leeren Augenhöhlen starrten die verödeten Mauern des Unglücksortes dem Trauerzuge nach.

Da wankte still und bleich eine Frauengestalt, von zwei Männern gestützt, herbei. Es war Frau Hösli, sie konnte noch immer nicht gehen. Sie ließ sich auf einen Stein nieder und die Männer gruben zu ihren Füßen mit Hacke und Schaufel nach, wo der Verunglückte gelegen hatte. Frau Hösli’s Augen durchforschten eifrig den Schutt. Die Mutter hielt Nachlese nach der Ernte des Todes, sie suchte die Ueberbleibsel des verlorenen Sohnes zusammen. Sie hatte keine Thränen bei dem furchtbaren Geschäft. Jetzt bückte sie sich und hob etwas auf, etwas wie eine blutige verstäubte Locke. Welch ein Fund war das für das verarmte Herz! Fast eine Stunde mochte sie so gesessen und manch’ schreckliches Kleinod gefunden haben. Da schlug es Vier. Sie ließ sich von den Männern aufheben. „Kommt, Leute,“ sagte sie ruhig, fast mechanisch; „es ist nun wohl Alles, was gefehlt hat, und Ihr müßt vespern.“

Sie ging.

Und wieder war es still und einsam auf dem schaurigen Platze, und wieder rauschte ein düsteres Heldenlied vom Kampf des Geistes mit der Materie durch die Trauerfahnen.




15. Um ein Haar.

Herr Heiri Hösli war in Wahrheit gestorben als Held. Die Aussagen des Heizers, der mit ihm zugleich ausgegraben worden, bewiesen glänzend, daß Heiri sich mit ihm noch flüchten gekonnt, wenn er nicht voll Todesverachtung versucht hätte, den Kessel und das Gebäude zu retten. Dieser Pflichttreue war er zum Opfer gefallen, wie schon Mancher, dessen Todesmuth unter stummen Splittern und Trümmern begraben keinen Homer seiner Thaten fand – auf dessen blutige Wahlstatt kein Schatten eines Lorbeerzweiges fiel.

Der Heizer, welcher sich sterbend glaubte, bekannte freimüthig, daß er sich einer Versäumniß in der Speisung des Kessels schuldig gemacht. „Die Turbine hatte in Folge der andauernden Trockenheit nicht mehr Wasser genug,“ gab der Mann zu Protokoll, „wir mußten deshalb die Spannung des Dampfes von vier auf sechs Atmosphären erhöhen. Ich war bei dem früheren Betriebe gewohnt, die Speisepumpe regelmäßig alle halbe Stunden in Gang zu setzen, durch die verstärkte Feuerung und den vermehrten Dampfverbrauch sank jedoch der Wasserstand im Kessel weit rascher, als ich glaubte. So wie ich den niedrigen Stand des Wassers wahrgenommen hatte, setzte ich schleunigst die Speisepumpe in Betrieb und verminderte die Feuerung unter dem Kessel, wobei ich durch die geöffnete Feuerungsthür sah, daß die oberen vom Feuer bestrichenen Kesselwandungen rothglühend geworden waren. Während dessen war Herr Heiri Hösli eingetreten. Er erkannte sogleich die Gefahr und da er schon ohnehin in großer Aufregung war, schalt er, daß wir Deutschen nichts verstünden, und beklagte bitter, daß ihm der Engländer, den er mitgebracht, unterwegs krank geworden sei. Der Zeiger des Manometers stieg außerordentlich rasch, die Gefahr hatte ihren Höhepunkt erreicht und ich sah, daß nichts übrig blieb, als zu flüchten, so schnell wie möglich. Ich hielt mich in der Nähe der Thür und beschwor unseren Herrn, mit mir zu gehen. Er aber wollte es mit Gewalt erzwingen. Er kannte keine Furcht und wollte den Kessel retten um jeden Preis. Er sprang dem Sicherheitsventile zu, um dasselbe zu entlasten. In diesem Augenblicke erfolgte ein Knall, es war mir, als schlüge sich mir der Kessel um den Kopf, und ich verlor das Bewußtsein.“

So lautete die Aussage des Heizers.

„Also doch Einer, der auch in diesem Beruf sein Leben hingab für seine Pflicht!“ sagte Alfred zu Egon, als die Zeitung das Protokoll veröffentlichte.

In Alfred’s Wesen war eine Veränderung vorgegangen. Seine schüchterne Sanftmuth war einer ernsten verschlossenen Haltung gewichen. Ein eigenthümliches trotziges Mißtrauen lag in seinem Wesen Egon gegenüber.

„Onkel Egon,“ sagte er, „Du hast Deine Mitmenschen verleumdet. Der Mohr, den Du ein Thier nanntest, hat Dich beschämt, Dich, den stolzen Johanniter, und der selige Herr Hösli hat uns bewiesen, daß die Industrie Raum genug für hochherzige ritterliche Gesinnung läßt! Was, Onkel Egon – was soll ich Dir nun noch glauben?“

„Es scheint fast, als wäre das Unglück nur geschehen,“ lächelte Egon, „um mich und meine Grundsätze bei meinem philosophischen Herrn Neffen zu discreditiren. Das wird sich Alles machen, wenn Du einmal, wie doch früher oder später geschehen muß, in eine große Stadt kommst und den Kreis Deiner Anschauungen erweiterst.“

„Onkel,“ rief Alfred und schüttelte seine blonden Locken, „wenn Du den Vater überredest, Mich hier fortzubringen, dann ist es ganz dasselbe, als ob Du mich in den See würfest. Mich ekelt es an, dahin zu gehen, wo alle Menschen so denken wie Du!“

„Alfred!“ rief seine Mutter, aber er hörte nicht, er hatte bereits das Zimmer verlassen. Adelheid war sprachlos vor Staunen. „Wie wird der Knabe?“ sagte sie.

„Wie Du ihn erzogen hast, meine Theure,“ lachte Wika und ging Alfred nach.

Adelheid und Egon waren allein.

„Der Bursche haßt mich aus Eifersucht,“ sagte Egon und drückte Adelheid’s Hand an die Lippen. „Er war es bisher gewöhnt, daß Du Dich um Niemand kümmertest als um ihn – nun kann er es nicht vertragen, Nebenperson zu sein. So machen es alle verwöhnten Kinder.“

Adelheid entzog Egon die Hand. „Sag’ mir das nicht immer; Du weißt, es thut mir weh; hättest Du wie ich seit fünfzehn Jahren Tag und Nacht um dies zarte Leben gebangt, liebtest Du ihn wie ich – Du würdest mir keinen Vorwurf aus meiner Schwäche für den Knaben machen, wenn überhaupt eine Schwäche genannt werden darf, was doch nur Liebe ist!“

„Adelheid!“ sagte Egon mit einem Ton, der ihr das Herz tief bewegte, „kannst Du mir zürnen, wenn ich ebenso, wie Dein Sohn auf mich, wiederum auf ihn eifersüchtig bin, wie überhaupt auf Alles, was Du liebst? Ich habe ja nichts als das Bewußtsein, daß ich in Deinem Herzen herrsche. Alle Anderen haben ein Recht auf Dich, erfreuen sich Deiner Nähe, ich allein, der Dich liebt wie Keiner, stehe ausgeschlossen und rechtlos da und geize nach jedem unbestimmten Zeichen einer Liebe, die Du so voll über Andere ausströmst. O meine – meine Adelheid!“

Er sah sie an so übermächtig, so unwiderstehlich, die sanften schwermüthigen Augen drangen ihr tief in die Seele, ein süßes Mitleid ergriff sie, ein Mitleid, das es ihr zur Pflicht machte, den treuen Mann zu entschädigen für so viele Entbehrungen! Und sie neigte ihm das anmuthige Haupt zu und begrub seine Wange in einem Bette weicher Locken. Ein leises „O!“ des Entzückens entrang sich seinen Lippen. Er drückte den reizenden Kopf fest an sich, seine Finger verstrickten sich in dem wirren dichten Goldgespinnst, das so fein wie Sommerfäden überall hängen blieb. Dies verrätherische Haar, es verwickelte sich, wie einst in dem Diadem, nun in Egon’s Ringen, ohne daß er es wußte. Da hörten sie Schritte und schraken auseinander, Egon konnte nur schwer seine Hand aus Adelheid’s Locken befreien, sie stieß einen leisen Schmerzenston aus. Die Thür ging auf, aber die Eintretenden konnten nichts gesehen haben, es war der Candidat und Alfred.

(Fortsetzung folgt.)


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 196. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_196.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)