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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

wie eine große Familie. Bunt genug war dieselbe. Da waren unter Anderen ein Midshipman der Vereinigten-Staaten-Flotte, der vor Kurzem von den Fidschi-Inseln in San Francisco angelangt war und eine fliegende Visite nach New-Jersey machte; eine junge amerikanische Dame, die ganz allein zu Besuch nach New-York reiste; ein Amerikaner, der in Heidelberg studirt hatte und sehr gut Deutsch sprach; ein deutscher Kornhändler und Millionär aus San Francisco, sieben Fuß hoch, eine von den Damen besonders geschätzte Persönlichkeit; eine Familie von Michigan mit zwei allerliebsten Kindern, die im Waggon spielten und sich herumjagten, daß Jeder seine Freude daran hatte.

Hier und da wurden die kleinen Klapptische zwischen den sammtgepolsterten Doppelsitzen in Requisition gebracht, und wir spielten Karten, Dame etc. Zwischen den Mahlzeiten versammelten sich die meisten Herren im „Cosmopolitan“-Waggon, rauchten und spielten und lasen und discutirten die Gegend. Nicht wenig Interesse erregten die vielen Indianer, Shoshones und Piutes, welche an jeder Station versammelt waren. In zerlumpten Kleidern bettelten sie von den Passagieren, – die verkommensten Geschöpfe, welche man sich nur denken kann.

Die nächste Nachtfahrt brachte uns nach dem geschichtlichen Promontory am Nordende des großen Salzsees, achthundertundzwanzig englische Meilen von San Francisco. Nichts bezeichnet dort die Stelle, wo am 10. Mai des vorigen Jahres die letzte Schwelle der verbundenen Weltbahn niedergelegt wurde, wo die Locomotiven „Jupiter“ von der Central und „Nr. 116“ von der Union Pacific sich zum ersten Mal begrüßten, wo der weltberühmte goldene Nagel eingeschlagen wurde, und von wo der Telegraph die Kunde der großen That gleichzeitig nach allen Enden der civilisirten Welt brachte. In Amerika ist das Ereigniß so gut wie vergessen; Niemand auf unserem Zuge sprach davon.

Die Stadt Promontory ist bald nach dem goldenen Nagel und der Lorbeerholzschwelle, die nach San Francisco wanderten, vom Erdboden so gut wie verschwunden. Sechsunddreißig englische Meilen weiter entstand an der Eisenbahn eine blühende Stadt Corinne, die einzige „Heiden-Stadt“ im Mormonenlande. Um die Frühstücksstunde erreichten wir die ansehnliche Mormonenstadt Ogden, wo sich die Union Pacific an die Central Pacific anschließt. Eine Zweigbahn läuft von Ogden nach Great Salt Lake City, der Residenz des Mormonenpascha Brigham Young.

Die Gegend am großen Salzsee mit den schmucken Mormonenniederlassungen, welche mich vor drei Jahren im Monat Mai, auf der Reise von Texas nach Idaho, so entzückt hatte, sah jetzt ganz winterlich aus. Ich konnte nicht umhin, an jene Postfahrt über die Steppe und die Felsengebirge recht oft zurückzudenken, als ich jetzt in dem glänzenden Hôtelzuge über denselben Boden dahinsauste. Zweiundvierzig Tage dauerte damals meine Reise von St. Louis nach Idaho City und wochenlang saß ich während derselben in der Postkutsche. Gefechte in der Kutsche mit Indianern, meilen- und meilenweit durch Schneefelder zu waten, Umwerfen der Postkutschen, Schneeschaufeln, durchnäßt, halberfroren, halbverhungert, auf Rumpelwagen und im Schlitten über die Felsengebirge, zu Fuß über die schneebedeckten Wasatchgebirge, – das war damals mein wenig beneidenswerthes Loos. Im Hôtelzuge ging die Reise diesmal etwas angenehmer von Statten! Damals war ich während Wochen von der civilisirten Welt ganz abgeschnitten; jetzt las ich jeden Morgen die neuesten Telegramme von Ostindien bis nach San Francisco, heute in dieser, morgen in jener Zeitung, und in Städten gedruckt, die vor drei Jahren noch gar nicht existirten.

Unter der Aegide der Union Pacific setzten wir unsere Reise von Ogden fort. Beim Teufelsthore traten wir mit doppeltem Vorspanne des Dampfes ein in die Cannons, die natürliche Straße vom Osten in das Utah-Bassin. Quer durch die Wasatchgebirge führen diese Felsenstraßen, Weber Cannon und Echo Cannon, – die Via Mala der Neuen Welt. Die thurmhohen Felsenwände hallten wieder vom Brausen des Dampfzuges, als wir uns vierzig Meilen weit durch diese hochromantischen Gebirgspässe hinwanden. Unangenehm überraschten mich nur die an die Felsen gemalten Annoncen. In Echo Cannon paradirten an den schönsten rothen Felsmauern die Worte: „Drake’s Plantation Bitters!“ die ein Yankee mit ellenlangen weißen Buchstaben dorthin gemalt hatte. Es kam mir wie eine Entheiligung vor. – „1000 Mile Tree!“ (der Tausend-Meilen-Baum) liest man an einem einsamen Baume in Weber Cannon. Nur tausend Meilen nach Omaha? Uebermorgen sind wir dort!

Am nächsten Tage dejeunirten wir siebentausend Fuß über dem Meere, auf der ganz eingeschneiten großen Laramie-Ebene, Bergforellen, Antilopensteaks, californische Spargel, Blumenkohl etc. In der winterlichen Oede unserer letzten Tagereisen nahm der Comfort des Hôtelzuges so zu sagen einen poetischen Charakter an. Was kümmerten uns Schnee und Eis und Hagel und Sturm, ob Hochgebirge auf unserem Pfade, ob endlose Wüsten, ob wir fünftausend oder sechstausend oder achttausend Fuß hoch über dem Meeresspiegel dahinsausten! Wir trugen ja die Civilisation des neunzehnten Jahrhunderts mit uns durch die Wolken, – auf Flügeln des Dampfes!

Laramie City, 7123 Fuß über dem Meere, war so zu sagen der erste civilisirte Ort, den wir sahen, seit wir den großen Salzsee und die Mormonenniederlassungen verlassen hatten. Während der letzten zwei Tagereisen und namentlich in den Schwarzen Hügeln, wo die Union Pacific bei Sherman, 8242 Fuß über dem Meere, den höchsten Punkt ersteigt, waren die Schneefänge mir etwas ganz Neues. Dieselben sind schräge, über Kreuz aufgestellte Latteneinfriedigungen, die meistens parallel mit der Bahn laufen; mitunter sieht man mehrere in Zwischenräumen von etwa hundert Schritt hintereinander angebracht. Nach den Massen von Schnee zu urtheilen, die an den Schneefängen lagen und die sonst sicherlich auf die Bahn geweht wären, müssen jene ihrem Zwecke vollkommen entsprechen. Fast alle Schneefänge sind an der südlichen Seite der Bahn, weil die meisten Schneestürme aus jener Himmelsrichtung von den Felsengebirgen herwehen.

Von Sherman, wo ein heftiger Schneesturm wüthete, ging’s wieder bergab, aber so allmählich, daß man es gar nicht gewahr wird. Unsere letzte Nacht im Hôtelzuge verbrachten wir auf den Ebenen; die letzte Nacht brachte uns in das Thal des Platte, in eine angebaute Gegend und nach Omaha. Die Ebenen waren eine endlose, ganz mit Schnee bedeckte Fläche. Nur die Stationsgebäude an der Eisenbahn unterbrachen mitunter das Bild der menschenleeren Oede. Um ein Uhr und vierzig Minuten nach San Francisco Zeit langten wir in Omaha an, wo es bereits ein Viertel nach drei Uhr war. Pünktlich, auf die Minute der vorgeschriebenen Zeit, hatte der Hôtelzug die Fahrt von neunzehnhundertzwölf englischen Meilen zurückgelegt.




Unter den Schleichhändlern an der russischen Grenze.

Ein schneidend kalter Wintertag neigte sich zum Abend, und sein grellblendender Glanz dämpfte sich zu jenem milden, rosigen Licht, das wie ein Glorienschein die winterliche Grabesruhe der nordischen Natur verklärt. Unsere Fahrt ging auf knirschender Schneebahn durch einen dichten Forst der preußisch-russischen Grenze zu, die wir in etwa einer Stunde zu erreichen hofften. Wir kamen von Memel, dieser ultima Thule des deutschen Reiches, und unsere Reise galt einem etwa vier Meilen jenseits der Grenze tief im dunkeln Walde gelegenen Forsthause zu einem Weihnachtsbesuch bei einem lieben Jugendfreunde, welcher als fürstlich O.’scher Oberförster seit Jahren in Rußland lebte. Er selbst holte uns in seinem mit drei flinken Steppenpferden echter Race bespannten Jagdschlitten ab; in scharfem Trabe ging es vorwärts, so daß wir hoffen durften, unser Ziel noch vor dunkler Nacht zu erreichen. Der bis dahin schon scharf und schneidend wehende Ostwind, dem es darauf anzukommen schien, uns seinen Ursprung aus den eisigen Schneewüsten Sibiriens möglichst eindringlich zu demonstriren, und gegen den kaum die zottige Wildschur genügenden Schutz verlieh, war nach und nach zum heftigen Sturm geworden, der mit den lockeren Schneemassen sein wildes Spiel begann. Bald fegte er sie zu dichten Wolken geballt über den Weg und die weiten Lichtungen, bald schleuderte er sie gleich flatternden zerrissenen Schleiern zu den Wipfeln der schwarzen Föhren empor, die ob der Wucht des mächtigen Anpralls ächzten und stöhnten.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 298. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_298.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)