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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

Tanten in der Ferne waren von seiner Großmut abhängig und er sorgte mit Umsicht und Energie für ihr Schicksal, ohne sich durch Klagen und Bitten um dies oder jenes beirren zu lassen. Er war ein Jüngling gewesen, da er noch Knabe, jetzt war er ein Mann, da er noch Jüngling war.

Mit stiller Genugthuung blickte er auf die Stunde zurück, wo Feldheim verhaftet worden und er allein hülflos mit einer ebenso hülflosen Mutter zurückgeblieben war, denn er durfte sich sagen, daß er sich redlich aufgerafft hatte aus eigener Kraft, wie sein Lehrer es ihm verheißen hatte. Und dies Abschiedswort Feldheim’s war in Wirklichkeit seine Losung geworden, seine unsichtbare Stütze in jedem Leid, der sichere Bürge für die Unabhängigkeit seines ganzen Lebens.

Sobald es seine nach des Vaters Tode geschwächte Gesundheit erlaubte, hatte er sich der furchtbaren Operation unterworfen, von der ihn die jäh hereingebrochene Katastrophe abgehalten. Der kaum sechszehnjährige Knabe, der keinen Schuß knallen hören konnte, hatte das Chloroform verschmäht und eine Standhaftigkeit im Ertragen des größten Schmerzes bewiesen, die unter den Aerzten wahres Aufsehen erregte. Von dieser Zeit entwickelte sich ein freundschaftliches Verhältniß zwischen Alfred und dem Professor Zimmermann. Die Neigung, Arzt zu werden, die der kränkliche Knabe schon längst besaß, gewann im Verkehr mit dem genialen Chirurgen immer festeren Boden, und als er nach zwei Monaten zum ersten Male zwar noch hinkend, aber doch ohne die lästige Maschine durch Gottes schöne Natur hinschritt, theilte er seiner Mutter den Entschluß mit, Medicin zu studiren: „Der Arzt ist ein wahrer Wohlthäter der Menschheit, denn er rettet mit dem Körper auch die Seele,“ sagte er. „Er ist der eigentliche Vermittler zwischen dem Geist und der Natur, er muß den ewigen Kampf der beiden schlichten und das Gleichgewicht zwischen ihnen erhalten. Eine erhabene Aufgabe, wenn sie richtig erfaßt wird. Ich will sie zu lösen versuchen!“

Adelheid ließ ihn gewähren und er begann ohne Zögern seine Studien. So war er auf sich allein gestellt nach allen Richtungen und nichts fehlte ihm als die physische Stärke, die ihn auch äußerlich anderen Männern ebenbürtig gemacht hätte. Aber es ist eine alte Erfahrung, daß der Mensch gerade auf das den größten Werth legt, was ihm versagt ist. Dieser Mangel war von Kindheit auf der wunde Fleck in Alfred’s Seele. Wäre er in einer Umgebung aufgewachsen, wo nichts ihn darauf aufmerksam gemacht hätte, er wäre unbefangen geblieben. Aber er hatte beständig Gelegenheit, sich mit einem Ausbund von Muth und Kraft zu vergleichen, und dieser Ausbund beschämte ihn um so mehr, als er dem schwächeren Geschlecht angehörte und eine tiefe Neigung in der Seele des Jünglings entzündet hatte. So verfiel er auf das unglückliche Streben, sich einen Anstrich von Ritterlichkeit anzueignen, um Anna Hösli, die nichts so bewunderte als Ritterlichkeit, zu gefallen. Ein immer vergebliches Ringen, ein aufreibendes Wollen und nicht Können. Sich mit dem Streben eines Heros in der Brust als einen Krüppel zu empfinden, wem wäre das nicht qualvoll? um wie viel mehr mußte es einem Liebenden sein, der sich dadurch zum Gegenstand des Mitleids oder Spottes vor der Geliebten herabgewürdigt sah! Die Nächte durch studirte und arbeitete er, um die Tagesstunden so viel als möglich zum Turnen, Reiten und ähnlichen Beschäftigungen benützen zu können; doch was half es? Er war und blieb zart und schmächtig gewachsen, sein Gang war und blieb schleppend, seine Augen wurden von einer blauen Brille verborgen. Er eignete sich nicht für die Rolle des Helden und sie trug ihm nur Beschämungen aller Art ein.

Anna Hösli aber war eine Heldenjungfrau an Leib und Seele, Alles bewunderte sie. Sie war berühmt wegen ihres Turnens, Reitens und Schwimmens, ebenso wegen ihrer Schönheit und ihres Muthwillens. Der alte Jugendgefährte spielte, was man so sagte, eine traurige Figur neben ihr. Sie übersah ihn geflissentlich. Jedes junge Mädchen, das sich soeben entfaltet hat, begrüßt sich selbst mit einer Art stolzer Verwunderung über die eigene bisher ungeahnte Pracht und Herrlichkeit. Dies ist eine Epoche harmlosen Egoismus’, in der es die Welt nur als den Rückert’schen Garten betrachtet, den die Rose schmückt, wenn sie sich selbst schmückt. Was hat in solcher Zeit ein Verehrer zu hoffen, mit dem man sich nicht schmücken kann, dessen Nennung unter den Freundinnen höchstens ein Achselzucken hervorruft! Ein Verehrer, auf den man sich nichts einbilden darf! Und wenn man selbst etwas für denselben fühlte, man dürfte es sich doch nimmer gestehen – wie würden die Bekannten lachen, wenn sie merkten, man liebe den kleinen hinkenden Alfred Salten! Und wenn nun gar einmal dieser arme Anbeter vor allen Leuten auf dem „Hirschgraben“ vom Pferde gefallen war, während man mit allen Freundinnen vorbeiging – so war das eine Blamage, welche sich auch auf die mit übertrug, der zu Liebe er sein Pferd so ungeschickt manövriren ließ; ein solcher Ritter mußte verleugnet werden.

Diese und ähnliche Gründe waren es, welche die stolze Anna Hösli immer in einer gewissen Entfernung von Alfred hielten – sie schämte sich der Gemeinschaft mit einem Menschen, der sich lächerlich gemacht hatte. „Es sieht zu komisch aus, wenn Sie mit dem Salten gehen,“ hatte einmal ein Herr zu ihr gesagt – das saß fest und fraß weiter. Ein junges Mädchen will Alles auf der Welt eher sein als „komisch“ – in diesem Sinn!

Als Tags darauf Alfred sie bat, ihn nach Geßner’s Eichenhain zu begleiten, schlug sie es ab. Die folgenden Tage ebenso, und Alfred fühlte bald, daß sie sich nicht mehr mit ihm zeigen wollte. Er dachte, es sei eine der Veränderungen, die ihr beiderseitiges Erwachsensein mit sich brächte, und ergab sich traurig darein, aber ohne Groll – den wahren Grund ahnte er nicht. Sie sah, daß es ihn schmerzte, und nun kam es wie schon oft: sie bereute, ihm weh’ gethan zu haben, und schlug ihm einen andern, weniger belebten Weg nach Geßner’s Eichenhain vor, als den gewohnten, dort hoffte sie nicht mit ihm gesehen zu werden. Sie wußte es selbst nicht, daß sie den Spott der Leute noch mehr für Alfred als für sich selbst fürchtete, daß sie ihn noch mehr um Alfred’s willen als um ihrer selbst willen vermied.

So schritt denn das ungleiche Pärchen an einem schönen Sommernachmittage nach dem stillen wundervollen Wäldchen, dessen Wipfel das einfache Denkmal Geßner’s beschatten. Niemand war ihnen begegnet, kein boshaftes Lächeln hatte Anna’s Gefühl verletzt, sie war für einen Augenblick ganz allein mit Alfred auf der Welt. Schweigend traten sie in die grünen Hallen, welche die Natur selbst dem Andenken ihres treuen Malers erbaut zu haben schien, und in das Rauschen der dicht verschlungenen Aeste woben sich leise die kindlich rührenden Worte des entschlafenen Dichters. Ein feierlicher Geist wehte hier in dem kühlen Waldesdunkel, wie er alle die Gedächtnißstätten umgiebt, die ein dankbares Volk dem Andenken seiner Edlen geweiht. Ein leiser freundlicher Mahnruf an das verborgen schlummernde Gute und Erhabene im Menschenherzen klingt durch die Luft, es ist als ob der große Todte aus dem Munde des Abbilds spreche: „Folge meinem Beispiel – Du kannst es, wolle nur!“

So empfand es Alfred und der schwärmerische Zug, den er aus seiner verträumten Kindheit mit herübergenommen, machte sich in solchen Augenblicken geltend. Er hatte in dem mannhaften Streben nach einem hohen Beruf nichts von der Weichheit und liebenden Einfalt seines Gemüths eingebüßt.

Sie blieben vor der Büste Geßner’s stehen und Alfred lehnte müde am Sockel, sein geheilter Fuß war doch schwächer geblieben als der andere und vieles Gehen strengte ihn an. Er nahm hier im Grünen die Brille ab und seine weit ausblickenden Augen schienen eine wundervolle Erscheinung in dem Dickicht zu verfolgen, die nur ihm sichtbar war. So kam es Anna vor, als sie ihn verstohlen betrachtete. Er dachte wohl nicht an sie, er war in seine Träumereien versunken und schien sie ganz vergessen zu haben. Sie wußte nicht, warum ihr das weh that, sie wollte es ja selbst nicht besser haben. Aber der Friede des Ortes, die Stille des lauschigen Haines hatte auch auf sie gewirkt, es war ihr weich um’s Herz geworden und sie meinte, sie würde Alfred jetzt besser verstehen als sonst – und jetzt gerade redete er nicht mit ihr. Sie mußte ihn immer wieder anschauen. Wenn er die häßliche Brille nicht trüge, wie viel schöner wäre er! Er hatte viel von seiner Mutter. Das lockige seidene Haar, wenn auch mehr dunkelblond als röthlich, die classische Linie des Profils. Nur die Augen waren von unbestimmterer Farbe als die der Mutter, man wußte nicht, waren sie schwarz ober grau. Es waren seltsame Augen, so unergründlich in der Farbe, so milde und doch so durchdringend, so sehnsüchtig, als wolle er mit einem Blick die ganze Welt umfassen, und doch so stetig und ruhig, wenn sie auf einem

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 338. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_338.jpg&oldid=- (Version vom 16.1.2019)