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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

„Ich habe,“ versetzte die Angeklagte stammelnd, „davon gesprochen, aber –“

„Das, was Sie Ihrer Erklärung hinzufügen wollen,“ fiel der Vorsitzende hier ein, „werden Sie später, wenn es sich um die Vertheidigung handelt, auszusprechen Gelegenheit finden. Hier sind diese Bemerkungen nicht am Orte. Ich habe nur noch zwei Fragen zu stellen, die auf die Entscheidung Einfluß äußern werden. Angeklagte, haben Sie die Wahrhaftigkeit Ihrer Mittheilungen, bevor Sie diese machten, einer Prüfung unterzogen?“

„Nein, ich hatte dazu keine Zeit.“

„Angeklagte, erkennen Sie an, daß der Ort, an welchem die Mittheilungen von Ihnen gemacht wurden, ein öffentlicher war?“

„Nein, das erkenne ich nicht an.“

„Dies Nein befremdet mich,“ versetzte der Vorsitzende. „Ich gestehe offen, daß ich auch hier ein Ja erwartete, und sehe mich nun genöthigt, Sie mit noch weiteren Fragen zu belästigen. Sie haben bereits zugegeben, daß zur Zeit der Mittheilungen schon eine Anzahl Herren und Damen im Saale anwesend waren. Sie werden gewiß auch nicht in Abrede stellen wollen, daß jedes Mitglied der Gesellschaft Ressource das Recht hatte, unbehindert dort einzutreten?“

„Es ist, wie bekannt, eine geschlossene Gesellschaft,“ sagte zum ersten Male das Wort ergreifend der Geheimrath.

„Meine Frage,“ fiel der Vorsitzende hier unterbrechend ein, „ist an die Angeklagte gerichtet. Ich habe es nur mit dieser zu thun und muß jede Einmischung eines Dritten als unberechtigt zurückweisen.“

Der alte Herr gefiel mir; er ging auf geradem Wege nach dem Ziele und stieß, was ihn hier aufhalten und hindern wollte, rücksichtslos bei Seite.

„Angeklagte,“ wandte er sich an diese, „gestehen Sie zu, daß jedes Mitglied der Gesellschaft berechtigt war, in den Saal einzutreten?“

„Gewiß; es war aber eine geschlossene Gesellschaft, und die Damen, denen ich meine Mittheilungen machte, waren meine vertrautesten Freundinnen.“

Ueber das Gesicht des Vorsitzenden glitt ein feines Lächeln. Dies Lächeln galt den „vertrautesten Freundinnen“. Sie hatten sich ja als solche bewährt, sie hatten, indem sie die empfangene Mittheilung rasch weiter verbreiteten, das Vertrauen der Freundin glänzend gerechtfertigt.

„Angeklagte,“ fragte er noch immer lächelnd, „hielten Sie derartige Mittheilungen an vertraute Freundinnen für erlaubt?“

„Ich habe kein Unrecht darin gefunden, es geschieht ja so häufig, daß –“

„Leider, leider! Sie hätte aber doch wohl bedenken müssen, daß durch Ihre Erzählungen einem allgemein geachteten Manne Handlungen schuld gegeben wurden, welche diese Achtung aufzuheben geeignet waren. Haben Sie nicht daran gedacht?“

„Nein.“

„Diese Sorglosigkeit, ich finde keine gelindere Bezeichnung, hat, wie Sie erfahren haben werden, unsägliches Unheil angestiftet. Sie hat Menschen, die vereint durch’s Leben gehen wollten, auseinander gerissen, sie hat Hoffnungen unerfüllbar gemacht, sie hat Menschenherzen unendlich tief betrübt. – Ich würde keine Veranlassung genommen haben, hierüber zu sprechen, wenn die Angeklagte sich nicht darauf berufen hätte, daß unter vertrauten Freundinnen solche Erzählungen ‚häufig‘ gemacht würden. Wenn dies wahr sein sollte, und ich hege in dieser Beziehung nicht den geringsten Zweifel, so muß ich bemerken, daß das Strafgesetz einer solchen Unsitte Grenzen setzt.“

Das Verhör der Angeklagten war hiermit geschlossen. Es folgte das Verhör der Zeugen. Als solche traten auf: die Nähterin Marie und vier zur haute volée des Ortes gehörige Damen.

Die Vernehmung dieser Zeugen erfolgte mit einer außerordentlichen Genauigkeit. Kein Umstand, der belasten oder entschuldigen konnte, blieb unbeachtet, mit unendlicher Sorgfalt wurde auch das scheinbar Unbedeutende klar und zweifellos gemacht. Die Leitung ließ aber eine Schärfe erkennen, welche ohne jede Rücksicht sich nur die unparteiische Feststellung des zur Beurtheilung der Schuldfrage vorhandenen Materials zur Aufgabe gestellt hatte. Die Person der Angeklagten war dem Vorsitzenden hierbei völlig werthlos; er gab nichts auf ihre Schönheit, auf ihren Stand, auf ihren Reichthum, auf ihre Verbindungen, es schien sogar, als ob gerade das Vorhandensein dieser Vorzüge ihn dazu bestimmte, recht anschaulich zu machen, daß vor ihm kein Ansehen der Person gelte.

Das Resultat der Beweisaufnahme war insofern von Bedeutung, als sich herausstellte, daß die Angeklagte zu den Mittheilungen, welche ihr gemacht worden waren, verschiedenes Wesentliche hinzugefügt, daß sie dieselben somit gewissermaßen entstellt wiedergegeben hatte.

Die Quelle, aus welcher die Nähterin Marie geschöpft, blieb Geheimniß. Diese Zeugin hatte übrigens eine schweren Stand. Der Vorsitzende machte ihr über ihr leichtfertiges Verhalten die eindringlichsten Vorhaltungen. Er sagte ihr geradezu, daß sie eigentlich auf die Bank der Angeklagten gehöre, und daß, wenn ihr ein anderer Platz angewiesen sei, sie dies nur dem Umstande zu danken habe, daß der Ort, an welchem sie die bedauerlichen Mittheilungen gemacht, kein öffentlicher gewesen sei, sie daher nur durch die Civilklage zur Rechenschaft gezogen werden könne.

Endlich erklärte der Vorsitzende die Beweisaufnahme für geschlossen.

Der Staatsanwalt hielt die Schuld der Angeklagten für unbedenklich festgestellt. Er führte aus, daß er in der Verhandlung keinen Milderungsgrund aufgefunden habe, daß ihm deshalb die Anwendung einer Geldbuße unthunlich erscheine, und er beantragen müsse, die Angeklagte zu einer vierzehntägigen Gefängnißstrafe zu verurtheilen.

Der Antrag des Staatsanwalts mußte die Angeklagte überrascht und erschreckt haben. Sie erhob sich rasch von ihrem Sitze und versuchte zu sprechen. Der Mund war geöffnet, die Lippen zuckten, aber kein Laut kam darüber hinweg. Es war still geworden im Saale, ganz still; Aller Augen ruhten erwartungsvoll auf der Angeklagten. Diese schien entsetzlich zu leiden; sie stand unbeweglich aufrecht, aber ihr Gesicht spiegelte eine namenlose Angst, einen tiefempfundenen Schmerz wieder. Die lautlose Stille steigerte die Angst, die Angeklagte erzitterte unter dem gewaltigen Drucke und fiel mit einem lauten Schrei auf die schwarze Bank zurück. Sie bedeckte das Gesicht mit beiden Händen und weinte laut, oft krampfhaft schluchzend. Der Zuspruch des Gatten und des Vertheidigers vermochten nicht, sie zu beruhigen, sie weinte fort.

Der Vertheidiger stellte die Schuld gar nicht in Abrede, er versuchte nur, diese zu mildern, und gab sich die größte Mühe, anschaulich zu machen, daß eine „öffentliche“ Verleumdung nicht angenommen werden könne, der Angeklagten aber in jedem Falle mildernde Umstände zu statten kommen müßten und auf eine Geldbuße, deren Höhe dem Arbitrium des Gerichtshofes anheimgegeben werde, zu erkennen sei.

Die Angeklagte selbst vermochte nicht zu sprechen, das fortdauernde Weinen erstickte die Sprache, und ihrem Gatten, der noch zu sprechen versuchte, wurde das Wort entzogen, weil nur die Angeklagte und deren Vertheidiger, sonst aber Niemand zur Vertheidigung sprechen dürfe.

Die Mitglieder des Gerichts verließen den Saal, um das Urtheil zu berathen.

Ich fürchtete für die Angeklagte einen harten Urtheilsspruch. Die Schärfe, mit welcher die Verhandlung geführt worden war, ließ annehmen, daß dieselbe auch bei der Abmessung der Strafe sich Geltung verschaffen werde. Der Vorsitzende hatte von einer Unsitte gesprochen. Er hatte dies mit erhobener Stimme gethan und dabei die innere Erregung nicht unterdrücken können. Vielleicht sollte dieser Fall gar eclatant gemacht werden, um ein Exempel zu statuiren, zur Vorsicht zu mahnen und vor der Theilnahme an dieser Unsitte zurückzuschrecken. War denn die öffentliche Demüthigung dieser schönen, hochgestellten Frau nicht schon eine schmerzliche Strafe? Die That selbst konnte damit und mit Auferlegung einer Geldbuße recht gut für gesühnt angenommen werden, die Freiheitsstrafe vermochte ja nicht tiefer zu demüthigen, sie konnte nur für lange Zeit unglücklicher machen und ein glückliches Familienleben zerreißen.

Ich suchte noch nach Entschuldigungsgründen, als die Mitglieder des Gerichts in den Saal zurückkehrten. Die Berathung hatte nicht viel Zeit in Anspruch genommen, es konnten weder sachliche noch rechtliche Bedenken zu beseitigen gewesen sein.

„Angeklagte,“ sagte der Vorsitzende, „stehen Sie auf. Es ist erkannt: Im Namen des Königs, daß die Angeklagte wegen öffentlicher Verleumdung mit einer vierzehntägigen Gefängnißstrafe zu belegen und zu den Kosten zu verurteilen.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 351. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_351.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)