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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)


nur ein Bissel Wasser und Essig her, daß ich mir den Kopf abwaschen kann … ich hab’ eine tüchtige Schramme, und wenn ich nicht einen so harten Schädel hätte, wäre es mir gewiß an’s Leben gegangen … Geschieht mir aber ganz recht, warum muß ich überall meine Nase voran dabei haben …“

„Aber so rede doch nur,“ rief Juli, während die Magd das Verlangte herbeiholte und sich anschickte, dem fluchenden Burschen die Stirnwunde auszuwaschen; sie selbst stand wie gelähmt, aber ihre Hand, mit der sie sich am Tische hielt, zitterte. „Was ist denn geschehen?“

„Was wird geschehen sein!“ rief er entgegen … „die Eisenbahn hat umgeworfen oder wie man’s eben heißt … ich will Gott danken, daß ich so davon gekommen bin, aber daran denken werd’ ich auch, so lang’ ich ein offenes Aug’ habe. Es ging ganz lustig und der Zug sauste nur so dahin; ich könnt’ es ihm nit gleich thun mit unsern Bräuneln und wenn ich sie noch so arg hetzen wollt’, und die Bräuneln greifen doch gewiß tüchtig aus … auf einmal aber thut’s einen Schlag und ein Krachen und einen Stoß, nit anders, als wenn Einem das Haus überm Kopf einfallen thät … gleich darauf ist der Wagen umgefallen … wie ich herausgekommen bin, das könnt’ ich nicht sagen, und wenn ich mir damit das Leben gewinnen könnt’ und die Seligkeit dazu … Ich hab’s auch in der Erst’ gar nit gespürt, daß ich mir den Kopf’ angeschlagen hab’, denn was ich draußen gesehen hab’, ist noch grauslicher gewesen als der Schrecken und die Angst … der Dampfwagen war über das eiserne Geleis hinausgekommen und hat im Liegen gezischt und gesaust und Feuer gespieen wie ein Drach’ oder ein wildes Thier, das seinen Treff gekriegt hat und sich im Verenden windet und streckt … ein paar von den angespannten Wägen hat’s auch mit umgerissen, und die Leute, die darinn’ gesessen waren, haben durcheinander geschrieen und gejammert, daß es einen Stein hätt’ erbarmen müssen … es mögen wohl viele nit so gut weggekommen sein wie ich … ich hab’ selber ein paar wegtragen helfen, denen gewiß die Füße ab waren oder ein Arm … auf einmal aber ist’s mir schwarz geworden vor den Augen, da hab’ ich erst gespürt, daß mir das Blut über’s Gesicht heruntergeronnen ist, hab’ mein Tuchel eingetaucht in einen Tümpel am Weg und hab’ gemacht, daß ich weiter gekommen bin …“

Juli zitterte, daß der Tisch unter ihr zu wanken begann. „Aber wie hat denn das geschehen können,“ preßte sie mühsam hervor, „und wo?“

„Wie und wo?“ rief der Knecht und fuhr sich nach der Wunde. „Teufel, wie das brennt! Jetzt spür’ ich erst, was ich mir für einen Merks geholt hab’ … ich werd’ eine schöne Zeit damit zu thun haben … Unten im Mühlthal ist’s geschehen, just wo’s um den neuen Steinbruch herum geht, um die Niederpoint, von dort ist ein Baum heruntergekugelt, eine von den Eichen, die dort geschlagen worden sind … der Baum ist mitten auf der Bahn gelegen und über den ist der Dampfwagen gestürzt …“

Juli erwiderte nichts, sie wankte aus der Stube, um im Freien aufzuathmen; ihr war, als höre sie das entsetzliche Gekrach, als wolle auch über ihr das Haus zusammenstürzen; in dem dunklen Flur des Hauses trat ihr eine dunkle Gestalt entgegen. „Vater,“ keuchte sie, indem sie ihn am Arm ergriff und mit unwiderstehlicher Kraft in das Herrenzimmer drängte … „Vater, wo kommt Ihr her? Wo seid Ihr gewesen?“

Der Bergwirth stand einen Augenblick stumm; die Lampe beleuchtete ihn halb; er sah verwirrt und verwildert aus, er war ohne Hut, das Haar hing ihm wüst um die Stirn, die Züge seines harten Gesichtes waren wie versteint, aber aus den Augen flammte unheimliche Gluth. „Vater,“ rief Juli wieder, leise, aber noch drängender als zuvor, „um Seel’ und Seligkeit willen, wo seid Ihr gewesen …“

„Muß ich Dir etwa Rechenschaft geben?“ rief er wild entgegen, indem er vergeblich ihrer Hand sich zu entwinden suchte. „Geht’s Dich was an? Wir Zwei sind fertig miteinander ...“

„Redet, Vater,“ rief sie in steigender Angst, hielt aber inne, indem sie den Blick fester auf ihn richtete … „Nein, nein,“ schrie sie dann auf und schleuderte seinen Arm wie mit Abscheu von sich, … „sagt nichts, ich hab’s in Eurem Gesicht gelesen und will Euch sagen, wo Ihr gewesen seid … Ihr seid in der Niederpoint gewesen, Ihr habt den Baum hinuntergerollt auf die Eisenbahn …“

Der Bergwirth lachte wild auf. „Du bist wohl verrückt?“ rief er. „Was hab’ ich mit der Eisenbahn zu schaffen?“

„Leugnet’s nicht, Vater,“ entgegnete sie unter einem Strome von Thränen, in dem die Gewitterwolken ihres Herzens sich endlich lösten; „es nutzt Euch nichts … es ist Euch auf die Stirn gezeichnet, wie es vom Kain geschrieben steht in der heiligen Schrift … Mein Herr und mein Gott, so weit hat’s also mit Euch kommen müssen! Ist es denn möglich … Ihr könnt so gut sein, Vater, wenn Euch auch oft die Hitz’ übergeht … kein Mensch kann das besser wissen als ich … Vater, ich weiß, Ihr habt mich alleweil gern gehabt, ich will auch Alles thun, was Ihr von mir verlangt; ich will’s, und Ihr sollt nit ein einziges Mal ein betrübtes Gesicht bei mir sehen … aber gebt mir nur jetzt eine frische freudige Antwort! Seid Ihr wirklich nit in der Niederpoint gewesen … seid Ihr’s wirklich nit gewesen, der … Ich bring’s nit über die Zung’, so entsetzlich ist es … und Ihr … Ihr,“ fuhr sie im Tone des bittersten Jammers fort, „Ihr könnt es auch nit sagen … es graust Euch selber vor dem, was Ihr gethan habt! … Wer weiß, was Alles geschehen ist … Vater, ist es denn möglich, daß Ihr das habt über’s Herz bringen können … ein solches Unglück, so viele unschuldige Menschen … und das Alles habt Ihr auf dem Gewissen!“

Der Bergwirth hatte sich in einen Stuhl geworfen und sah, den Kopf in die Hand gestützt, finster vor sich hin … „Was weiß ich, wie’s gekommen ist,“ murrte er halblaut, „aber es hätt’ mir das Herz abgedrückt; ich hab’ etwas haben müssen, meine Wuth auszulassen … Warum soll alles Unglück mich allein treffen? Es sollen nur Andere auch verkosten, wie es schmeckt!“

„Und Ihr habt nicht bedacht, daß Ihr jetzt erst alles Unglück auf Euch gebracht habt, auf Euch und mich! … Und was Euch auch getroffen hat, bis heut’, Vater … das ist unverschuldet gekommen, aber jetzt … jetzt seid Ihr ein schuldiger Mann, jetzt dürft Ihr Euch vor keinem Christenmenschen sehen lassen und müßt die Augen vor Euch selber niederschlagen, jetzt sind wir erst ganz elend! … Und wenn sie vollends einen Verdacht auf Euch werfen, wenn sie Euch vor’s Gericht rufen … den Bergwirth, vor dem alle Welt den Hut abgezogen hat, weil er ein Ehrenmann gewesen ist … O Vater, Vater, was habt Ihr gethan!“

„Ich? Nichts,“ erwiderte der Wirth, gezwungen auflachend; „Wer kann hergehn und mir sagen, ich hab’s gethan? Sie sollen nur kommen und sollen sehn, was sie mir beweisen können! Ich selber werd’ der Narr nit sein und etwas sagen, und wenn mein eigenes Kind hingehn und mich verrathen will …“

„Vater, redet das nit aus!“ unterbrach ihn Juli, welcher mit der Gewißheit des Geschehenen auch die gewohnte Sicherheit wiederkehrte. „Ihr wißt nit, was Ihr sagt, sonst könnt’ Euch ein solches Wort nit auf die Zung’ kommen … Ich sollt’ Euch verrathen, denkt Ihr? Der Vater fürchtet sich also vor seinem eignen Kind … Nein, Ihr habt wohl vorhin gesagt, wir sind fertig miteinander, und auch mir ist ein Riß durch’s Herz gegangen, nit anders, als wenn Ihr gestorben wärt, aber ich werd’s doch nie vergessen, daß Ihr mein Vater seid … Könnt’ ich nur auch vergessen, daß mein Vater der Bergwirth ist und was er gethan hat, ich wollt’ einen Finger aus der Hand darum geben! Was ich meinem Vater schuldig bin, das weiß ich; aber mit dem Bergwirth bin ich für meinen Theil fertig … Gott geb’s, daß nit Andre kommen und nach ihm fragen …“

Der Wirth lachte wieder hell auf „Oho, laß sie nur kommen und fragen,“ rief er, „der Bergwirth bleibt ihnen die Antwort nicht schuldig – der Bergwirth …“ Er verstummte plötzlich, indem er zusammenschrak, und Juli trat an’s Fenster, durch den geschlossenen Laden zu lauschen.

Geräusch vieler Fußtritte erscholl vor dem Hause und an den Stufen …

„Sie sind’s schon … es ist das Gericht …“ flüsterte Juli erschrocken. Der Bergwirth fuhr mit der Hand über die Stirn, als wolle er mit dem krausen Haare auch die Gedanken ordnen und das Zeichen verwischen, von dem ihm Juli gesprochen; er richtete sich zu seiner gewohnten Haltung auf und trat mit einer Gelassenheit zur Thür, welche einen flüchtigen Beobachter wohl zu täuschen vermocht hätte … ehe er die Klinke berührte,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 402. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_402.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)