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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)


Ein lebhaftes Murmeln unterbricht die feierliche Stille des Orts, die Männer schicken schweigsam die blauen Dampfwolken aus ihren kurzen Pfeifen in die Luft; doch die Weiber, die sich vielleicht seit dem letzten Rügegerichtstage nicht gesehen und gesprochen, haben sich viel zu erzählen „von Dem und von Der und von Jener“. Unverkennbar ist aber die Stimmung eine ernste und gemessene. An einem einfachen hölzernen Tische unter dem Vorbau des Häuschens neben den majestätischen Lindenstämmen von fünf Fuß Durchmesser nehmen die Mitglieder des Rügegerichtshofes Platz. Der Richter, rechts von ihm der Protokollführer und links der Schöppe. Dem Ersten gegenüber der Forstanwalt, zugleich in der Function des Cassirers der fiscalischen Abgaben. Hinter dem Richtersitze faßt stehend der Landsknecht Posto. Drei Schläge mit dem Ebenholzstabe des Vorsitzenden geben um zehn Uhr Vormittags das Zeichen des Beginnens der Handlung. Alles erhebt sich und schaart sich in engem Kreise um die Stätte. Lautlose Stille, nur in den Wipfeln der heiligen Bäume rauscht es, als zöge der Geist der Vorzeit über dieses Stück altgeweihter Erde.

Der Richter: „Herr Schöppe, ich frage Euch, ob im Namen und von wegen des Durchlauchtigsten Herzogs, Herrn Leopold Friedrich, regierenden Herzogs zu Anhalt, Herzogs zu Sachsen, Engern und Westphalen, Grafen zu Ascanien, Herrn zu Zerbst, Bernburg und Gröbzig etc., unseres allerseits gnädigsten Herzogs und Herrn Hoheit, ich heutigen Tages ein freiöffentliches Klage- und Rügegericht einem Jeden zu seinem Rechte hegen und halten möge?“

Der Schöppe: „Herr Richter, dieweil Ihr die Gnade von Gott und dem Durchlauchtigsten Herzoge und Herrn, Herrn Leopold Friedrich, Herzoge zu Anhalt etc., Hoheit, habt und Euch die Gerichte befohlen und aufgetragen worden sind, so ist es wohl Tag und Zeit, daß Ihr ein freiöffentliches Klage- und Rügegericht einem Jeden zu seinem Rechte hegen und halten möget.“

Der Richter: „Herr Schöppe, ich frage Euch, wie soll ich höchstgedachter unserer gnädigsten Landes- und Gerichtsherrschaft Klage- und Rügegericht einem Jedem zu seinem Rechte hegen und halten, und was soll ich darin erlauben und verbieten?“

Der Schöppe: „Ihr sollet zum ersten, zum anderen und zum dritten Male es hegen, Ihr sollt erlauben Recht und verbieten Unrecht, namentlich verbieten spöttische, höhnische Worte, spitze scharfe Gewehre, Entfernung aus dem Gerichte und Unaufmerksamkeit und befehlen, daß Niemand in oder außerhalb der Gerichtsbank vor Seiner Hoheit des Herzogs zu Anhalt Klage- und Rügegericht vortrete, sein selbst oder eines Andern Sache zu führen, er thue es denn mit Vorbewußt des Richters.“

Hegung des Gerichts durch den Richter (sich erhebend): „Nun thue ich, wie hier rechtlich erkannt ist, und hege hiermit im Namen und von wegen des Durchlauchtigsten Herzogs und Herrn, Herrn Leopold Friedrich, Herzogs zu Anhalt etc. Hoheit, ein freiöffentliches Klage- und Rügegericht einem Jeden zu seinem Rechte. Ich will erlauben Recht und verbieten Unrecht, namentlich verbieten spöttische, höhnische Worte, spitze scharfe Gewehre, Entfernung aus dem Gerichte und Unaufmerksamkeit und befehlen, daß Niemand vor Seiner Hoheit des Herzogs zu Anhalt Klage- und Rügegerichte vortrete, sein selbst oder eines Andern Sache zu führen. Mit des Richters Erlaubniß mag er getrost vortreten, sein selbst oder eines Andern Sache zu führen; dann soll er gehört, der Beklagte und Gerügte gefordert und nach dem Verhör beider Theile durch ein rechtmäßiges Urtheil der Sache von Rechtswegen entschieden werden.“

Der Richter: „Herr Schöppe, ich frage Euch, ob ich unserer gnädigsten Landes- und Gerichtsherrschaft Klage- und Rügegericht einem Jeden zu seinem Rechte geheget habe?“

Der Schöppe: „Ihr habt an dieser Gerichtsstelle Seiner Hoheit des Herzogs zu Anhalt Klage- und Rügegericht also genugsam geheget, daß Jedermann Recht verstattet worden.“

Der Richter: „Wer da zu klagen und zu schaffen hat, mag nach ausgerufenem Gerichte vortreten und seine Nothdurft bestimmt und ordentlich vorbringen.“

Der Landsknecht: „Nachdem des Durchlauchtigsten Herzogs und Herrn, Herrn Leopold Friedrich, regierenden Herzogs zu Anhalt Hoheit anjetze ein frei öffentlich Klage- und Rügegericht einem Jeden zu seinem Rechte genügend gehegt und gehalten wird, so rufe ich solches auf zum ersten Mal, zweiten und dritten Mal; wer davor etwas zu klagen hat, mag hervortreten, seine Sache bescheiden vorbringen. Ihm soll geholfen werden, wenn er Recht hat.“

Die Schultheißen übergeben zunächst die Liste der Dingpflichtigen. Nach deren Verlesung werden die Ausgebliebenen in die observanzmäßige Strafe von fünf Silbergroschen verurtheilt, dann die eingegangenen Forststrafanzeigen erledigt, Kaufcontracte zur gerichtlichen Verlautbarung vorgetragen, Streitigkeiten geschlichtet und dergleichen, was immerhin einige Stunden andauert, worauf die Absagung des Gerichtes in folgender ritueller Weise erfolgt:

Der Richter: „Herr Schöppe, dieweil Niemand übrig ist, der vor seiner Hoheit, des Herzogs Klage- und Rügegericht Etwas zu schaffen und zu klagen hat, so frage ich Euch, ob ich im Namen höchstgedachter unserer Durchlauchtigsten Landes- und Gerichtsherrschaft solches wiederum aufheben und aufgeben mag.“

Der Schöppe: „Demnach Euch die Gnade und Macht von unserer gnädigsten Landes- und Gerichtsherrschaft Höchstdero Klage- und Rügegericht zu hegen und zu halten gegeben ist, so habt Ihr dasselbe aufzugeben Macht, weil Niemand mehr davor zu klagen hat, bis Seine Hoheit unser gnädigster Herzog und Herr solches anderweit bedarf.“

Der Richter (sich wieder erhebend): „Demnach und weil vor des Durchlauchtigsten Herzogs und Herrn, Herrn Leopold Friedrich, Herzogs zu Anhalt etc. unseres allerseits gnädigsten Herzogs und Herrn Hoheit, Klage- und Rügegericht Niemand mehr übrig ist, welcher hier zu klagen oder zu schaffen hat, so will ich dasselbe im Namen Gottes und von wegen Seiner Hoheit, des Herzogs zu Anhalt, bis zum nächsten Gerichtstage aufheben und aufgeben. Gott der Herr behüte uns vor einem ewigen und erschrecklichen Gerichte.“

Damit ist die Handlung geschlossen. Ernst und schweigend, als laste der Alp des ewigen Gerichts auf ihrer Brust, trennen sich die Dingpflichtigen und eilen in dichten Schaaren den Berg hinunter ihrer Heimath zu.

Ein viermaliges Krachen; ein hundertfaches Echo, und still und einsam ist es wieder an den Trümmern der wüsten Kirche von Volkmanrode.

Zum Schlusse mag erwähnt werden, daß auch jetzt noch ein zweites Rügegericht in etwas verkümmerter Form in Harzgerode für die Einwohner der Feldflur Steinbrücken gehegt und den Tag vor dem Volkmanroder abgehalten wird. Seine Befugniß ist dieselbe, wie zu Volkmanrode.

Das Rügegericht für die Harzgeroder Bürger und die Insassen der nächsten umliegenden Dörfer hat erst vor wenigen Jahren den moderneren Institutionen weichen müssen. Ob das zu Volkmanrode, als letzter Rest altgermanischen Verfahrens, welches, wenn auch verschiedentlich schon durch moderne Form entstellt, im Wesentlichen noch fremdartig aus vergangenen Jahrhunderten in unsere nüchterne Gegenwart hineinreicht, vor den todesstraflichen Schrecken des neuen norddeutschen Strafgesetzbuches sein Leben wird erhalten können, will ich dahingestellt sein lassen. Es mag aber fallen oder stehen, die Stätte selbst werden wir stets mit pietätvollem Interesse und dem gerechtfertigten Wunsche betreten, daß nicht auch, wie bei der ehrwürdigsten der alten Linden, die noch vor zehn Jahren in saftigstem Grün und prächtigstem Blätterschmuck prangte, ein Frevler durch muthwillige Zerstörung der übrigen Zeugen der Vorzeit den Fluch eines zweite Herostratus auf sein Haupt lade.

H. Rahn.


Ein klerikaler Industrie-Ritter.
(Schluß.)

Indessen begannen die Verwaltungsräthe der früher von ihm gegründeten „Hypothekenbank“ über die Verantwortlichkeit, die von Tag zu Tag größer wurde, doch etwas unruhig zu werden; denn für 21,000,000 Francs waren schon Pfandbriefe ausgegeben und die Zinsen und Dividenden bestanden nur in den gefälschten Bilanzen. Solche Kleinigkeiten störten jedoch Langrand nicht, mit einem Schlag verlegte er den Hauptsitz des „International“ nach London, ließ denselben als limited, d. h. mit beschränkter Haftbarkeit der Actionaire, registriren, und die Passiva der „Hypothekenbank“ gingen einfach auf die Passiva des „International“ über! Es

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 438. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_438.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)