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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

die ihr so verhängnißvoll geworden, und wollte sich fortfahren lassen, so weit es ging, fort und in die Welt hinein, in ein Land, wo gewiß Niemand sie kannte – nach langem Sinnen gedachte sie der Schwester einer alten ihr ergebenen Magd, die am Fuße des Westerbergs lebte und sich kümmerlich mit Nähen und Stricken fortbrachte. Dort war sie sicher gut aufgenommen und das kleine Häuschen war unschwer zu erreichen, denn es lag nur wenige Schritte vom Eingange der Niederung entfernt. … Frostgeschüttelt machte sie sich auf den lichtlosen Weg, ihr Umschlagetuch fest an sich ziehend, das ihr der Sturm vom Leibe zu winden suchte … sie hatte gedacht, die Strecke schnell zurücklegen zu können, allein schon die ersten Schritte überzeugte sie von der Schwere und Gefährlichkeit ihres Unternehmens. Es war beinahe unmöglich, in der Finsterniß und auf dem dunklen Grunde den schmalen Pfad zu erkennen und die darauf gelegten Holzbrücken nicht zu verfehlen, zudem hatte sie den Wind gerade gegen sich und die Regentropfen schlugen ihr heftig an Stirn und Augen. Nicht lange, so mußte die Unsicherheit des Bodens, auf den sie trat, sie überzeugen, daß sie bereits vom Wege abgekommen war – mit Schauder fühlte sie denselben unter ihren Tritten nachgeben, und in dem Bestreben, den einsinkenden Fuß wieder hervorzuziehen und festere Grundlage zu suchen, gerieth sie immer näher an die unheimlichen Stellen, wo unter der grünen trügerischen Decke der unergründliche Pfuhl gleich einem versteckten Raubthiere auf sein Opfer lauerte. Ein Schrei des Entsetzens gellte durch Nacht und Wind, als sie plötzlich bis an’s Knie einbrach, und als beim angstvollen Sprunge sie den Boden immer wieder unter sich weichen fühlte – Niemand hörte den Ruf der Angst – schon glaubte sie sich verloren, als sie im Dunkel einen noch dunkleren Gegenstand erkannte, der sie Rettung hoffen ließ, und mit der letzten Kraft der Verzweiflung sich daran festklammerte. Es war die kleine Erhöhung mit dem bebuschten Felsstück – mit vergehenden Sinnen, bis zum Tode erschöpft, sank sie darauf nieder, hart an dem Todtenbrett der Versunkenen … sie gewahrte es nicht; mit verdoppelter Wuth stürmte es auf die Unglückliche herab, die kalten Tropfen begannen sich zu Flocken zu gestalten … sie fühlte es nicht, der Engel des Todes senkte den dunkeln Fittig näher und näher auf sie herab; sie war seinem unspürbaren Kusse verfallen, wenn der Morgen sie noch an dieser Stelle fand.

Nach einiger Zeit kam es wie ein Irrlicht über den Moor daher … es war der Schein einer Laterne, deren Träger ärgerlich und doch lachend über das Unwetter dahinschritt. „Ist mir doch ein solches Gethu’ und Geblase noch gar nie vorgekommen!“ brummte er. „Ist es doch, als wenn alle Hexen und Druden ihren Tanz hielten auf dem garstigen Sumpf; wird wohl Eine von ihnen gewesen sein, was vorhin so kläglich geschrieen hat. … Wenn ich das gedacht hätte, wär’ ich auch heute nicht mehr hinein in den Markt. … Aber was liegt denn da?“ unterbrach er sich und hob die Laterne. „Heiliger Bartlmä, das ist ja ein Weibsbild … die hat sich offenbar verirrt und ist da liegen geblieben. … Da ist’s doch für was gut gewesen, daß ich noch so spät unterwegs bin. … Heda, steh’ auf; Du,“ fuhr er fort, indem er sie rüttelte, „Du hast Dir eine schlechte Liegerstatt ausgesucht.“ … Er leuchtete ihr in’s Gesicht und fuhr erschrocken zurück. „Ja, wie ist mir denn?“ rief er. „Ist denn das nicht die Juli, die schöne Juli vom Bergwirth? Wie kommt denn die daher in dem Unwetter, mitten in der Nacht und so ganz allein. … So steht doch auf, Jungfer, und kommt mit mir … hier müßt Ihr ja zu Grunde gehn …“

Juli schlug die Augen auf, sie sah ihn an, aber ihr Blick war starr und verwirrt.

„Heiliger Bartlmä,“ rief er, „ich glaub’ sie ist gar nicht bei sich selber. … Jungfer, besinnt Euch doch; kennt Ihr mich denn nicht? Ich bin’s ja, der Postbartl, der Postillon, dem Ihr so manche Halbe Bier geschenkt habt. … Sie hört und sieht nicht; ich muß sehen, daß ich sie in die Höhe bringe und in meine Klause; wenn sie wieder bei sich selber ist, werd’ ich ja hören, was es gegeben hat …“

Er zögerte nicht lange; mit kräftigem Arm hob er die Wankende empor und führte sie hinweg, halb sie stützend, halb tragend, bis er sie wohlbewahrt und sicher auf das Lager in seiner Behausung niedergleiten ließ.

In der Nacht vertobte der Sturm; draußen in der Natur wie in Geist und Körper des Mädchens, das bei voller Jugendkraft in einem tiefen Schlafe das beste Mittel fand, sich von den Anstrengungen und der Betrübniß des vergangenen Tages zu erholen.

Ein heller freundlicher Morgen schien durch’s helle Fenster, als sie erwachte und sich verwundert auf einem zwar sehr einfachen, aber sauberen Bette in einem ihr völlig unbekannten Stübchen fand. Fragend blickte sie um sich und wollte sich des Vergangenen erinnern; es war ihr verwischt; sie wußte nicht, ob Alles, was sie den Abend zuvor erlebt und ertragen, nur ein entsetzlicher Traum gewesen; sie war wunderbar gestärkt und erfrischt, und wie einen Gruß wiederkehrenden Glücks ließ sie, rasch ihren Anzug ordnend, die Morgenluft um ihre Schläfe spielen, die durch’s Fenster strich, als habe sie wirklich eine ihr aufgegebene Botschaft zu bestellen. Das Stübchen war außerordentlich klein, es hatte nichts darin Raum als das Bett, in dessen Gestell sich auch eine Kleiderlade befand, ein kleiner Tisch und ein paar hölzerne Stühle. Alles war von der größten Einfachheit, aber rein und zierlich gehalten und so blank, daß man auf dem Fußboden hätte „anrichten“ können. Die weißen Wände waren ohne allen Schmuck, nur auf den Fensterbrettern standen allerlei Blumen in Töpfen und sahen den Ranken der wilde Rebe zu, die draußen, an der Wand des Häuschen emporgezogen, wie scherzend hin und wider schwankten.

Sie eilte aus der Thür, um zu erkunden, wo sie war, und blieb auf der Schwelle stehen, überrascht von dem Bilde anmuthiger Friedseligkeit, das sich vor ihr ausbreitete. Sie befand sich, wie sie sogleich erkannte, am Fuße des Westerberges, in einem rings von stark ansteigendem Bergwalde umschlossenen Thälchen; sie hatte die Nacht in dem Bahnwärterhäuschen zugebracht, an dem sie Tags zuvor so unachtsam vorübergegangen; eine undurchdringliche Tannenhecke umzäunte dasselbe und das zierliche Gärtchen, in welchem ein reicher ländlicher Blumenflor eben seine Farben auszubreiten, seinen Duft zu verstreuen begann. Unfern des Zaunes zog der Bahndamm vorüber, und der Wärter in rother schwarzverbrämter Jacke stand eben an der Stange, des Zuges harrend, dessen Signale er bereits aufgezogen hatte … sie vermochte nicht, sich des Mannes zu entsinnen … sie sah weiter um sich und gewahrte wenige Schritte seitwärts am Berghange das altersbraune Bauernhäuschen, an dem oft, wenn sie des Weges gekommen, ihr Auge mit Wohlgefallen verweilt hatte; vor demselben saß ein uraltes Mütterchen und sonnte sich …

Jetzt sauste der Bahnzug daher und in seiner furchtbaren Wucht vorüber; der Boden dröhnte unter ihm und Juli fühlte ihr Herz aufpochen von der noch nie gesehenen gewaltigen Erscheinung, und eine Art Ehrfurcht überkam sie vor der Erhabenheit des Gedankens, der ein solches Werk in’s Dasein gerufen; sie begriff, wie dagegen kein Widerstand zu dauern vermochte und wie der Geist einer neuen Zeit mit ehernem Tritt über der Gegenwart dahinschritt.

(Fortsetzung folgt.)

Kleiner Briefkasten.

P. Rect. in Katscher. Kleiner Schäker Sie! Senden ein oberfaules Gedicht und bestimmen das etwaige Honorar für den Benedix-Fond. Glauben Sie wirklich auf diesem nicht mehr ganz ungewöhnlichen Wege Ihre Eitelkeit befriedigt zu sehen?

Mh. in Berlin. Ihr Wunsch wird schon in nächster Nummer befriedigt werden. Eine Autorität auf dem Gebiete der Physiologie, Herr Professor Funke in Freiburg, erfreut die Leser unseres Blattes mit einem ausführlichen Artikel: „Die Diätetik der Vegetarianer“, die die neuerdings oft ventilirte Frage in sehr interessanter Weise beleuchtet.



Druckfehler-Berichtigung. In einem Theile der Auflage von Nr. 27 sind leider zwei Druckfehler uncorrigirt geblieben, Seite 421 (unter dem Bilde) ist als Todestag von Moscheles der 10. Mai anstatt der 10. März, Seite 426, Zeile 51 als Stiftungsjahr der 7. Hypothekenbank das Jahr 1866 anstatt 1860 angegeben.


Zur Ehrengabe für Roderich Benedix

gingen abermals ein: Für den Verfasser der „Relegirten Studenten“ von J. B. und G. W. aus Frankfurt a. M. 3 Thlr.; Schw. in K. 5 Thlr.; Gesellschaft Erholung in Essen 5 Thlr.; Theaterdirector Thieme in Neuschönefeld 3 Thlr.; B.-Club in Nordhausen, gelegentlich eines gemüthlichen Abends 1 Thlr. 15 Ngr.; dem trefflichen Schilderer „zärtlicher Verwandten“ aus Regensburg 1 Thlr.; A. Geipel in Asch 30 Thlr.; in einem Couvert angeblich 2 Thlr. von N. N. in Leipzig fehlte das Geld.

Die Redaction.

Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 448. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_448.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)