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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

Maurach vorlieb nehmen. Also abgemacht! Ich gehe, meinen Rentmeister zu instruiren.“

Der Graf verbeugte sich leicht und verließ den Bibliotheksaal.

„Das heißt, Du solltest Gott danken, daß man Dich armen Vagabunden hier als Gast aufnimmt!“ flüsterte der Vicomte, von diesen letzteren Worten tief verletzt, und noch eine Weile zerstreut auf derselben Stelle stehen bleibend.

In dieser Deutung und Auslegung seiner harmlos hingeworfenen Worte hätte Graf Ulrich, wenn er sie vernommen hätte, eine Antwort finden können auf seine vorhin dem Vicomte gestellte Frage, ob das Leid und die Schicksalsschläge ihn gehoben, geläutert und besser gemacht. Sie hatten ihn jedenfalls sehr mißtrauisch und verletzlich gemacht!

Auch er verließ jetzt den Saal. Er eilte, um seine Tochter aufzusuchen und ihr den Erfolg seiner Unterredung mit dem Schloßherrn mitzutheilen, auf den sie so sehr gespannt sein mußte, und um zu hören, wie sie diesen Erfolg aufnehmen würde.




6.

Der Vicomte fand seine Tochter in einem alterthümlich aussehenden Zimmer im rechten Flügel des Hauses, der, an den großen Eckthurm angesetzt, im rechten Winkel nach vorn vorsprang; zwei Fenster gingen nach dem Hofe hinaus, ein drittes nach außen in’s Freie gehende gewährte dieselbe Aussicht, wie man sie aus dem Mittelsaale mit den chinesischen Tapeten hatte. Das machte diesen für Fremde bestimmten Raum sehr freundlich; sonst aber sah er ein wenig verstaubt und verdunkelt aus; die Möbel waren sehr schwer und sehr altfränkisch und die Ueberzüge sehr verschossen; die Fenster hatten schwere Läden, aber keine Vorhänge, und ein großer leerer Kamin gab dem Ganzen etwas Unwohnliches. Die Wände waren mit Hautelisse-Tapeten, welche im letzten Jahrhundert ihres farbenreichen Daseins auch ein wenig von ihrer Frische verloren hatten, bekleidet. Sie stellten Scenen aus der heiligen Schrift dar, und über dem Kronenräuber Ahab war ein schlechter Kupferstich gehangen, der den Großherzog Murat im ganzen Glanze seiner theatralischen Ritterlichkeit darstellte – gewiß hatte nur der wohlgemeinte Wille, die loyale Gesinnung der Schloßbewohner an den Tag zu legen, den neuen Landesvater in dem Zimmer angebracht, das als Hauptfremdenzimmer so oft durchreisenden Beamten, Inspectoren oder Officieren marschirender Truppen eingeräumt wurde.

Melusine saß an einem runden Tische in der Mitte des Zimmers; sie hatte Schreibzeug vor sich, die zu excerpirenden Urkunden lagen daneben; doch saß sie, das Kinn auf den Arm gestützt, ohne zu arbeiten – die Spannung auf das Ergebniß der Unterredung, welche sie in diesem Augenblicke zwischen ihrem Vater und dem Hausherrn voraussetzen durfte, mochte ihr nicht die Ruhe lassen, sich anderen Dingen zuzuwenden.

Als der Vicomte eintrat, sah sie ihn mit fragenden Blicken und leise erblassend an, ohne ihre Stellung zu verändern und ohne ein Wort zu sprechen.

Er warf sich tief aufathmend und wie erschöpft auf den Stuhl ihr gegenüber.

„Ich habe mit ihm geredet,“ sagte er leise. „Mein Gott, wohin kann die Noth uns bringen! Zu welchen Demüthigungen!“

„Und noch dazu umsonst!“ rief Melusine erschrocken über dieses Wesen ihres Vaters aus.

„Nicht das,“ sagte er. „Nein, nein! Beruhige Dich! – Seine Antwort war eine überraschend gütige, wenn sie nicht wieder eine überraschend schlimme gewesen.“

„Wie soll ich das verstehen?“

„Er behauptet die Summe, deren wir bedürfen, nicht zu besitzen.“

„Ah! In der That?“

„Aber er will uns dennoch das Doppelte hergeben; nur sollen wir warten, bis sein Rentmeister sie beschafft.“

„Wie lange soll das währen?“

„Vielleicht Wochen!“

„O mein Gott … Wochen lang soll sich für uns diese peinigende Situation, dies drückende Bewußtsein, daß wir hier eigentlich eine treulose, abscheuliche Rolle spielen, ausdehnen?“

„Können wir etwas Anderes thun, als uns darein ergeben? Ich sagte Dir, er will uns das Doppelte dessen, was ich erbat, geben …“

„O, das ist es eben, diese großmüthige Arglosigkeit in einem sonst rückhaltslosen und abstoßenden, in Egoismus verwilderten Charakter …“

Der Vicomte krampfte schmerzlich seine Hände zusammen.

„Du hast Recht,“ sagte er. „Wie arglos giebt er uns diese Documente da; wie eifrig war er, mir sein ganzes Archiv zu öffnen! – Und wir, die wir kommen, um ihm den Krieg zu bringen, und dazu als Waffen eben dieser Documente bedürfen!“

„Wir werden uns zum strengsten Gesetz machen,“ fiel Melusine ein, „nur das zu nehmen, was wir bedürfen, um unser Gut in Berry ausgeliefert zu erhalten, um uns dort als die Eigenthümer oder Erben zu legitimiren. Wir wollen seiner Güte nur das verdanken. Und, Vater, wäre es denn ein so Großes, wenn wir unsere Gedanken ganz auf diesen nächsten Zweck beschränkten? Wenn wir unser Gut in Berry zurückerhalten haben und wenn es hinreicht, uns bequem und sorgenfrei leben zu lassen – wäre es dann nicht das Weiseste und Edelste, uns zu begnügen und über unsere Ansprüche auf diese Herrschaft Maurach zu schweigen?“

„Wie … ganz zu verzichten?“

„Hatten wir denn ursprünglich Rechte darauf? Sind die Rechte dieses Grafen Ulrich nicht ältere und deshalb vielleicht auch bessere als die unsrigen?“

„O nein, nein – das Gesetz giebt uns …“

„Ein neues, ein revolutionäres Gesetz, für das wir nicht eintreten können, ohne unsere Ueberzeugungen zu verleugnen, ohne uns selbst unritterlich zu erscheinen. Wäre dies neue Gesetz, das dem alten Lehnswesen ein Ende gemacht und uns als die eigentlichen Erben berufen hat, ein Ausdruck unserer Grundsätze, dann wäre es etwas Anderes.“

„Mein Kind,“ unterbrach sie der Vicomte, „der Grundsatz eines Edelmanns, der sein Haus aufrecht erhalten oder, wenn es gefallen ist, es wieder zu Ehren bringen will, muß vor Allem sein, sein Recht zu behaupten, unbeugsam und bis zur Härte streng für sein Recht einzutreten. Ohne rücksichtloses Festhalten daran, ohne zähes Vertheidigen kommen die Menschen und vor Allem die Familien unter die Füße und gehen zu Grunde. Sprich mir nicht davon. Ich habe ja hier auch nicht allein ein Recht zu vertheidigen, sondern auch eine Pflicht zu erfüllen, die Pflicht gegen Dich und Deine Zukunft.“

„Wenn ich Dich davon frei spräche …“

„Da es eine Pflicht gegen Dich ist, darf ich auf das, was Du darüber sagst, nicht hören!“

Melusine schwieg.

„Er hat Dir nichts darüber gesagt, wann er im Stande sein würde, Deinen Wunsch zu erfüllen, wann wir ein Ende für diese peinvolle Lage hoffen dürfen?“

„Nichts Bestimmtes – als daß es Wochen lang dauern könne.“

„Und er hat Dir freiwillig zweitausend statt tausend Thaler versprochen?“

„So ist es – weil tausend nicht reichten.“

„Aber damit zweitausend Thaler beschafft werden, haben wir doppelt so lange hier zu sein, als wenn es sich blos um tausend handelte!“

„Vermutest Du eine Absicht dabei?“ fragte der Vicomte mit einem scharfen Blick in’s Auge seiner Tochter; „die Absicht gar, Dich um so länger hier zu fesseln?“

Sie zuckte gedankenvoll die Schulter, und blickte dabei zum Fenster hinaus.

„Ich denke,“ sagte sie dann, „wir können uns darein fügen, weil wir um so länger Gelegenheit erhalten, den Charakter dieses Mannes zu ergründen. Wenn er in der That so ist, wie er scheint, so werden wir am Ende weniger Gewissensscrupel dabei zu empfinden haben, daß wir darauf ausgehen, diese schöne Herrschaft mit all’ den Menschen, die davon abhängen, aus den Händen eines wilden jungen Mannes, der sie zu Grunde richten würde, zu nehmen!“

„Das ist eine sehr richtige Bemerkung, mein Kind,“ versetzte eifrig der Vicomte, sehr bereitwillig die Sache von diesem Gesichtspunkte aus anzusehen; und je mehr Beruhigendes für sein Zartgefühl in diesem Standpunkte lag, desto geneigter war er, das Urtheil seiner Tochter über den Charakter des Grafen Ulrich zu theilen und es mit jedem Tage, den er in Maurach zubringen würde, sich selber unbewußt schärfer und härter zu machen.

Gewiß war auch Melusine ganz ebenso geneigt und bereit

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 452. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_452.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)