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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

Weberinstinct, der Viper ihre Giftzähne etc. Sie wies, wie das teleologische Raisonnement weiter lautet, in gerechter Vertheilung der durch diesen Grundsatz bedingten Calamität, zur thunlichst gleichmäßigen Sicherung aller Lebensformen vor gänzlicher Vertilgung den verschiedenen Thierarten verschiedene Lebenssphären zum Fouragiren an und sorgte umgekehrt dafür, daß jede Art ihren Tribut an den allgemeinen Haushalt, wenn auch in verschiedenem Betrage, zahlt. Sie gab jedem Thiere seine natürlichen Feinde, aber auch Schutzmittel gegen dieselben, oft in demselben Werkzeuge Angriffs- und Vertheidigungswaffe zugleich, und wenn sie eines ihrer Geschöpfe in letzterer Beziehung stiefmütterlich bedachte und ihm ein unverhältnißmäßig hohes Contingent von Schlachtopfern für die große Speisekammer aufbürdete, so entschädigte sie dasselbe durch eine entsprechend gesegnete Fruchtbarkeit.

Nun, das ist abgedroschene Schulweisheit, mit deren Wiederkäuung ich Sie nicht behelligen will. Ich verwahre mich auch ausdrücklich, daß ich der teleologischen Form, in welcher ich gesprochen, eine höhere wissenschaftliche Berechtigung zuerkenne. Ich habe sie gewählt, weil sie dem Laien am geläufigsten ist und am plausibelsten klingt; ich durfte sie gebrauchen, weil auch das Lehrgebäude der Vegetarianer wesentlich auf teleologischem Fundament ruht. Jedenfalls drängen uns solche Betrachtungen die Ueberzeugung auf, daß die Natur bei der Aufstellung und Durchführung des obersten thierischen Haushaltsprincips keine sentimentalen Rücksichten genommen hat. Die Auferlegung des Zwanges, in dem unvermeidlichen Kampfe um’s Dasein fremdes Leben zu vernichten, hat nach menschlichen Begriffen etwas Grausames, und wer die Gesetzgebung der Natur nach dem Gemüthsmaßstab richtet, legt begreiflicher Weise den Schwerpunkt der Anklage in die Anordnung so massenhafter Opfer thierischen Lebens, während die Vertilgung der seelenlosen Pflanzen höchstens dem zartestbesaiteten Frauengemüth nach der Lectüre von Fechner’s „Nanna“ Kummer erregt. Dieser Standpunkt ist im Allgemeinen ebenso erklärlich als harmlos; der Trieb zu anthropomorphosiren, Alles nach menschlichem Maße zu messen und Allem ein menschliches Gepräge aufzudrücken, zieht sich als rother Faden durch alle unsere Anschauungen von dem, was außer uns ist und gedacht wird. Wenn wir ihn aber auch nicht verdammen wollen, müssen wir uns doch hüten, alle seine naiven Consequenzen zu Recht bestehen zu lassen.

Es ist gewiß naiv, wenn wir den Tiger grausam nennen und es ihm als Charakterfehler anrechnen, wenn er ein Menschenleben nicht respectirt, welches doch sicher auf der ihm aufgezwungenen Speisekarte steht. Aber noch naiver ist es, zu behaupten, es sei sündhaft, zu glauben, daß die Natur auch den Menschen angewiesen haben könne, sein Dasein auf Kosten thierischen Lebens zu fristen, es stehe irgendwo in jenem Urgesetzbuch ein Paragraph, welcher dem Menschen als etwas „Unnatürliches, Unmenschliches“ verbiete, Thiere zu anderen Zwecken als zu seiner Vertheidigung zu tödten. Wahrlich, wenn die Natur die Grille gehabt hätte, dieses Verbot auszusprechen, wenn sie, gleichviel aus welchem Grunde, den Menschen zum reinen Pflanzenfresser bestimmt hätte, sie hätte ihrem Meisterstück einen schlechten Dienst geleistet. Nur dadurch, daß sie den Menschen als Omnivoren (Allesesser) schuf, ihn so organisirte, daß er ebensowohl bei reiner Pflanzennahrung, als bei animalischer, als bei gemischter Kost in voller Gesundheit leben kann und seinen Instinct auf Thiere und Pflanzen aller Art leitete, nur dadurch machte sie es ihm möglich, den Kampf um’s Dasein so glänzend zu bestehen, daß sein Geschlecht die ganze Erde überwucherte, in allen Zonen, den gegebenen Verhältnissen sich anpassend, heimisch wurde und so die vielgepriesene Mission als Herr der gesammten Schöpfung erfüllte. Derselbe natürliche Zwang, welcher die Bewohner der Tropengegend zu vorherrschender Pflanzenkost treibt, gebietet den Bewohnern der kalten Zonen ausschließliche oder überwiegende animalische Kost. Wollen die Vegetarianer etwa behaupten, der Eskimo habe die Grenzpfähle des natürlichen Menschenterritoriums überschritten, oder bilden sie sich selbst ein, sie können ihn noch zum „Freund der natürlichen Lebensweise“ heranziehen und er könne als solcher existiren? Wollen sie ihn lehren, wie er dem mörderischen Klima Getreidefelder und Gemüsegärten abtrotzen kann? Oder wollen sie ihn aus unserem Brodkorb, der ohnehin bei dem geringsten Mißwachs für uns schon hoch genug hängt, speisen? Wollen sie ihn, da er nun einmal nothwendig Fett als bestes Heizmittel verzehren muß, um die enormen Wärmeverluste seines Körpers zu decken, wie jeder Nordpolfahrer an sich erprobt, wollen sie ihn mit Olivenöl versorgen, um ihm den wohlfeilen Thran seiner Fische entbehrlich zu machen? In der That findet man in den Schriften der Vegetarianer schwache Versuche, zu beweisen, daß man auch in nördlichen Ländern bei ihrer Diät bestehen könne. Sie berufen sich auf die ackerbautreibenden Finnen, welche bei Brod und Milch gesund leben. Sie citiren nach Virchow die Arbeiter auf den Hochebenen Norwegens, welche sich von Flachbrod und trockenem Käse nähren. Erstens aber ist z. B. gerade bei den Finnen ein hoher Fleischconsum eine notorische Thatsache, und zweitens sind Milch und Käse eben doch animalische Nahrungsmittel – aber, sagt der Vegetarianer, solche, die wir ohne das sündhafte Morden von Thieren gewinnen! Die Sophistik dieser Ausrede ist wirklich äußerst komisch! Weil die Vegetarianer zugeben müssen, daß es ohne Milch auch bei uns schon nicht wohl angeht, haben sie sich in Betreff der Moralität des Milchgenusses einen Ablaßzettel ausgestellt. Sie tödten kein Thier für ihre Küche, aber sie stehlen consequent aus dem Haushalt des Rindviehs das kostbare Material, welches die Natur den mütterlichen Organismus aus seinen individuellen Einnahmen sich abdarben heißt, um es zur Bestreitung neuen kindlichen Lebens seiner Art zu verwerthen. Die weniger Strengen essen sogar Eier und entlasten ihr Gewissen mit der raffinirten Entschuldigung, es sei keine Sünde, ein Leben im Keime zu zerstören, wie wenn der Dieb, welcher aus der Münze die Silberbarren stiehlt, sich damit rechtfertigen wollte, daß es kein geprägtes Geld sei.

Kehren wir wieder zu unserer ökonomischen Betrachtung zurück und überlegen wir einmal ernstlich, was im Laufe der Zeit wohl werden würde, wenn wir, geblendet von seinen goldenen Verheißungen, uns Alle zum Vegetarianismus bekehrten. Wir tödten keine Schweine mehr, wir geben sie frei, lassen sie wieder verwildern und mit ihrem reichen Familiensegen in ungestörter Gemüthlichkeit von unseren Aeckern sich mästen. Wir schlachten keinen Ochsen und kein Kalb mehr und strapaziren unsern Boden, ihren steigenden Futterbedarf zu erschwingen. Wir geben den Schafen und Ziegen und ihren Kindern und Kindeskindern die freie Weide, wir schießen keine Hirsche, Rehe und Hasen mehr und theilen brüderlich mit ihnen die gemeinschaftliche vegetabilische Vorrathskammer – so lange es ausreicht. Ja, so lange es ausreicht! Es bedarf keiner Sehergabe, um zu prophezeien, daß wir sehr bald verzweifelt fragen müßten: Wo bleiben wir? Lassen Sie es sich von Landwirthen und Nationalökonomen ausrechnen, in welchem Zeitraume etwa, trotz möglichst gesteigerter Productionskraft, trotz ängstlichster Verwerthung jeder brauchbaren Scholle, unser Boden für die an ihn gestellten Anforderungen insolvent werden müßte, noch dazu, wenn über die ganze dichte Bevölkerung Europas das Heil der „natürlichen Lebensweise“ ausgegossen wäre, wenn wir Alle in Urgesundheit Methusalem’s Alter erreichten. Sollen wir dann, weil sie uns zuviel von der ihnen angewiesenen Nahrung fressen, die harmlosen Thiere plötzlich als unsere natürlichen Feinde erklären, die Jäger und Metzger als nothwendiges Uebel wieder zu ehren bringen und wieder zu morden anfangen, ohne jedoch das edle Material unserer Opfer zu verwerthen, in neuem höheren Leben wieder auferstehen zu lassen? Das hieße der Natur in’s Gesicht schlagen, nicht aber ihre Gebote ehren.

(Schluß folgt.)




Federzeichnungen aus einem Berliner Skizzenbuche.
1. Mutter Kranzlern.

Flackerndes Laternenlicht, Sturm, Regen, Schnee, Alles in wechselnd schrägen Linien wild durcheinander gepeitscht; die Fußgänger vorn übergelegt dagegen ankämpfend, ihre Hüte haltend und die Falten ihrer Mäntel und Havelocks zwischen den Füßen; die Regenschirme ächzend und seltsame, melonenartige Gestalten annehmend, die Droschkenpferde sogar mit flatternden Mähnen und Schweifen das schwankende Gefährt ruckweise hinter sich herreißend – und das Ganze sich spiegelnd auf Trottoirs und Fahrdämmen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 457. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_457.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)