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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

Der Bergwirth.
Geschichte aus den bairischen Bergen.
Von Herman Schmid.
(Fortsetzung.)


Der Bahnwärter hatte den Zug nach Vorschrift salutirt, dann ließ er die Signalarme herab, aber er machte noch immer keine Anstalt, seinen Posten zu verlassen, sondern blieb stehen, als ob er noch einen Theil seines Dienstes zu verrichten übrig habe … und bald erklangen die lieben bekannten Töne des Posthornes an Juli’s harrendes Ohr …

„Bartel …“ rief sie freudig und eilte zu ihm, während er ebenfalls beim ersten Laut ihrer Stimme sich umwandte und ihr dann entgegengesprungen kam. „Postbartel … bist Du es denn wirklich? Also bei Dir bin ich die Nacht über gewesen? Du hast Dich um mich angenommen, Du braver Bursch …“

„Mein, laß es die Jungfer gut sein, wegen der Bravheit,“ erwiderte Bartel fröhlich, indem er die ihm gebotene Hand ergriff und in seiner Herzensfreude derb schüttelte. „Ich hab’ Euch doch nicht so liegen lassen können … Ihr wärt ganz gewiß zu Grund’ gegangen, und Ihr seid immer so gut gewesen mit mir und so freundlich, schon damals, wie Ihr noch ein kleines Mädel gewesen seid und ich Euch immer auf dem Schimmel reiten lassen mußte. Ihr wißt wohl noch? Ist ein gar gutes lammfrommes Thier gewesen, der Schimmel, und wenn ich mit ihm geredet hab’, hat er jedes Wort verstanden, justement wie ein Mensch … Aber weil die Jungfer nur wieder frisch und wohlauf ist! Ich hab’ gestern recht Angst gehabt um sie, sie hat gar kein Zeichen von sich gegeben …“

„Wie kann ich Dir danken, Bartel!“ sagte Juli, indem sie zu dem Häuschen traten und sich auf der Bank davor niedersetzten ... „ich wußte gar nicht, wo Du hingekommen warst; es ist Vieles geschehen, seit Du mit der Post nicht mehr vorbeigekommen bist am Bergwirthshaus …“

„Denkt nicht daran; davon können wir ein andermal reden, ich fürcht’, es thät’ Euch jetzt traurig machen, und ich möcht, daß Ihr bei mir recht vergnügt wärt, so vergnügt, wie ich selber bin! Ihr müßt nicht verzagen; es geht Manches in der Welt anders, als man denkt … das hab’ ich am besten erfahren. Wer hat mehr Angst gehabt vor der neuen Einrichtung da, vor der Eisenbahn, als ich, und wie ich das letzte Mal von Euch weggeritten bin und hab’ den blauen Stutzfrack ausgezogen, so hab’ ich gemeint, ich müßt’ mich der Läng’ nach hinlegen und sterben, vor lauter Sorge und Kümmerniß! … ‚Was wird aus Dir altem Kerl werden?‘ hab’ ich mir gedacht; ‚gelernt hast Du weiter nichts als Reiten und mit den Rossen umgehn, einer harten Arbeit kannst Du auch nicht mehr vorstehn … jetzt kann es Dir in den Garten wachsen, daß Du in Deinen alten Tagen noch hungern und betteln gehn mußt …‘ und wenn ich an meine bald achtzigjährige halbblinde Mutter gedacht hab’, die drüben in dem alten Haus sitzt und Niemand hat als mich, so hätt’ ich gleich weinen können wie ein Schulbub’ Und jetzt ist es so ganz anders worden! – Jetzt sitz’ ich wie der Vogel im Hanfsamen; hab’ einen Dienst, den ich leicht und noch lang’ versehen kann, ich hab’ mein Bahnwärterhäusel, das so nett und so proper ist wie das von einem Schnecken, hab’ mein gewisses Salari, und was das Kraut erst fett macht, ich hab’ gerad’ die Station kriegt, die sie da hergebaut haben, keine fünfzig Schritte von meinem Heimathl, wo mein Vater gehaust hat, wo ich auf die Welt ’kommen und aufgewachsen bin und wo meine alte Mutter sitzt, daß sie mich erschreien und ich sie alle Finger lang heimsuchen kann … Ich komm’ mir manchmal vor, als ob ich schon auf der Welt in den Himmel ’kommen wär’! … Oder auch wie ich oft von den Klausnern und Einsiedeln gehört hab’, die sich auch so ein schönes stilles Plätzl ausgesucht haben; ich bin auch ein solcher, ein neuer Einsiedel, und Alles das verdank’ ich der Eisenbahn; d’rum hab’ ich mir’s auch fest vorgenommen, so oft ein Zug vorbei ist, nimm ich mein liebs Posthörnl und blas’ ihm nach, daß es eine Freude ist …“

„Guter Bursch,“ sagte Juli herzlich, „ich gönn’ Dir Dein Glück!“

„Aber wie hab’ ich gesagt?“ rief er wieder. „Wem verdank’ ich mein Glück? … Der Eisenbahn? … Nein, die Eisenbahn ist wohl die Veranlassung zu meinem Glück, aber verdanken thu’ ich’s niemand Anderm als dem kreuzbraven Herrn, dem Geometer … Na, die Jungfer weiß schon, wen ich mein’.“

„Doch nicht …“ erwiderte Juli, aber ihr Erröthen zeigte, daß sie wenigstens errieth, wer gemeint war.

„Mein – stell’ sich die Jungfer nit so an,“ rief Bartel lachend, „wenn ich auch ein alter Kerl bin, hab’ ich doch noch ganz junge Augen … Die Jungfer weiß recht gut, daß ich von Niemand Anderm red’ als von dem Herrn Falkner, der die Bahn vermessen hat! … Der hat sich um mich angenommen, weil er mir einmal auf dem Westerberg begegnet ist und ich mit ihm geplaudert hab’, wie mir der Schnabel gewachsen ist; er hat gesagt, ich wär’ ein Kerl, auf den man sich verlassen könnt’, hat sich für mich verwendet und mir den Platz verschafft. Aber er hat auch Recht gehabt; er kann sich auch auf mich verlassen, wann und wo er will … Hoch, der Herr Falkner soll leben und die Eisenbahn daneben!“ Er rief es mit erhöhter Stimme, dann riß er sein Posthorn hervor, trommelte mit den Füßen und blies einen Tusch, daß es lustig in die Berge schmetterte.

Juli blieb einige Tage – das Vergangene wurde nicht erwähnt; der alte Postillon und neue Einsiedel hätte es nicht über’s Herz gebracht, sie zu fragen, und dem Mädchen selbst war es ein Trost, nicht daran zu denken; sie kam sich vor, als wäre sie auf einer glücklichen Insel, durch ein unzugängliches Meer von der harten Welt und den feindseligen Menschen geschieden, allein in einer harmlosen Kinderwelt, die keine Erinnerung kannte und eben darum weder Wunsch noch Hoffnung hatte. Der Gedanke, die stille Zuflucht verlassen zu müssen, tauchte wie ein Schreckbild in ihr auf, und sie vernahm es mit inniger Freude, als Bartel in seiner treuherzigen Weise mit dem Vorschlage herausgerückt kam, sie solle ganz bei ihm bleiben, so lang’ sie wolle und wie sie wolle. „Ich mein’, es wär’ uns allen Zweien damit geholfen,“ sagte er, „ich für meinen Theil gäb’ ich weiß nicht was darum, wenn ich eine solche Gesellschaft und Hülfe haben könnte, zumal wegen meiner blinden Mutter, der es sehr wohl thäte, wenn sich Jemand freundlich um sie annehmen möchte … was ich verdiene, das reicht vollauf für uns Alle; der Jungfer aber, mein’ ich, müßt’ es angenehm sein, wenn sie den Leuten auf eine Weil’ ganz aus dem Gesicht käm’ und aus dem Gerede; in dem Bahnwärterhäuschen da sieht und sucht sie Niemand, und sie kann ja immer thun, was sie will, wenn es ihr einmal gar nicht mehr gefällt … Von mir aus, das versprech’ ich ihr, soll kein sterblicher Mensch erfahren, wo sie ist! Ueberlege sich’s die Jungfer, und mache sie mir die Freude, und sage sie Ja!“

Juli bedurfte keiner langen Ueberlegung, sie nahm das Anerbieten des neuen Einsiedels und die Zusage des Schweigens an und blieb. Sie bereute es auch nicht; es that ihr unendlich wohl, so von der Welt abgeschlossen zu sein und nichts von Allem zu hören, was draußen vorging. Sie besorgte den kleinen Haushalt des Bahnwärters und richtete sich im Nebenhäuschen bei der blinden Alten ein, die den freundlichen liebevollen Umgang bald lieb gewann und an ihr hing, wie an einer Tochter. Juli erholte sich Tag für Tag mehr von dem ausgestandenen Ungemach, und wenn ihr manchmal mahnende Gedanken kamen, drängte sie dieselben mit Gewalt zurück – die an den Vater, weil sie bei dem unvermeidlichen Loose, das ihn getroffen, ihm doch nichts sein und nicht helfen konnte; die an Franz, weil sie ihr doch vergeblich dünkten. Die Erinnerungen an ihn trug sie wie Kleinode im Schatzkästlein ihres Herzens verschlossen – aber sie scheute sich, den Deckel zu lüften und die gefährlichen Geister zu befreien; galt es doch vor Allem, die ganze alte Thatkraft und Festigkeit und sich selber wieder zu finden.

Sie blieb auch ungestört in ihrem Versteck und wagte es allmählich, sich in dem nahen Walde zu ergehen eine schöne sonnige Halde mit einem mächtigen wilden Apfelbaume war ihr bald ein Lieblingsplätzchen geworden, zu dem sie fast täglich lustwandelte,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 462. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_462.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)