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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)


Notiz über den Träger oder die Trägerin des Namens, über seinen Charakter und über seine Schicksale, und doch mag sich just eine Fülle des Interesses daran knüpfen, wenn wir sie nur kennten!“

Graf Ulrich ließ sich bequem auf den Stuhl nieder, den vorher Annette eingenommen: Er rief aus: „Ist das nicht gut, daß derartige Notizen und kleine Biographien von diesen Stammbäumen wegbleiben? Diese möchten verdammt viel von ihrem saubern und intacten Glanz verlieren, falls unter die Wappen und Namen der Herrschaften all die dummen und schlechten Streiche gesetzt würden, die sie zeitlebens verübt!“

„Ah …“ sagte die junge Dame, ihn wie überrascht anblickend, „Sie halten da Ihrem eigenen Geschlechte keine große Lobrede; waren so viele darunter, von denen es besser ist, zu schweigen, als ihre Thaten aufzuschreiben?“

„Davon weiß ich nicht das Mindeste; es ist mir nie eingefallen, mich darum zu kümmern. Und doch thu’ ich ihnen schwerlich Unrecht, wenn ich, ohne lange zu untersuchen, so denke. Ich denke eben von ihnen nicht besser, als ich von mir selber denke, und dann, mein’ ich, kann sich Niemand über mich beklagen.“

„Wäre das nicht doch möglich?“

„Glauben Sie?“ sagte lachend Graf Ulrich. „Glauben Sie, die Anzahl dummer und schlechter Streiche, die ich in meinem noch ziemlich jungen Leben bereits begangen haben könne, übersteige um ein Bedeutendes die Durchschnittsanzahl, welche man einem thörichten Menschenkinde, ohne ihm Unrecht zu thun, ohne Weiteres zurechnen darf?“

„Darüber,“ antwortete, ohne auf seinen scherzhaften Ton einzugehen, Melusine, „darüber kann ich nicht die leiseste Vermuthung haben.“

„Also die Möglichkeit geben Sie zu?“

„Weshalb nicht? Sie haben uns selbst gesagt, Herr Graf …“

„Ah, Sie denken an das, was ich Ihrem Vater erzählt, ich sei ein großer Lump gewesen! Ich habe Unrecht gehabt, so etwas zu gestehen; ich sehe, Sie denken ohnehin schlecht genug von mir!“

„Nicht doch,“ versetzte Melusine; „ich glaube nur, daß Sie die Eigenschaft vieler Menschen haben, sich im Uebermuth für schlechter auszugeben, als sie sind, und es für geistreicher zu halten, böse Eigenschaften zu besitzen als gute und sanfte.“

„Giebt es solche Menschen? Nun ja, es kommt vor,“ entgegnete der Graf „Doch mag es nicht immer Uebermuth sein, was dazu treibt, sich schlechter zu stellen, als man ist, vielleicht nur eine tiefe Unzufriedenheit mit sich selbst, die zur übertriebenen Selbstanklage führt, damit man sich im stillen dabei sagen dürfe: so schlecht bist du dennoch lange nicht!“

„Ist das bei Ihnen der Fall?“

„Ich glaube beinahe,“ rief wieder auflachend der Graf; „denn um ganz ehrlich zu sein, ich habe eine wilde und tolle Jugend durchlebt, aber doch nie schlechte Streiche begangen; nicht wahr, es ist kein schlechter Streich, wenn man sich duellirt und seinen Gegner über den Haufen schießt … es ist nur ein Unglück?“

„Hatten Sie dies Unglück?“

„Ja, ich hatte es.“

Melusine antwortete nicht.

„Nun, Sie sind nicht meiner Meinung?“

„Was kann Ihnen an meiner Meinung liegen in einer Angelegenheit, welche die Männer so ganz nach ihren eigenen Begriffen und den Gesetzen ihres besonderen Ehrgefühls beurtheilt wissen wollen?“

„Das heißt, Sie, Sie verurtheilen mich!“

„Wie könnte ich das, wenn ich nicht das Mindeste von den näheren Umständen weiß!“

„Wollen Sie davon hören?“

„O, das wäre ein Vertrauen, auf das ich nicht den mindesten Anspruch mache.“

„Das ist eine unfreundliche Antwort.“

„Nur eine bescheidene.“

„Ah, bah – mag sie sein, was sie will, sie kränkt mich! Und zur Strafe sollen Sie die ganze Geschichte anhören – mit Prolog und Epilog, denn sie hat leider Beides. Hören Sie mir zu?“

„Ohne Zweifel!“

„Ich stand bei einem österreichischen Reiterregiment bei Harrach-Kürassieren. Ich war Rittmeister. Wir standen in den Niederlanden, damals nach der Schlacht bei Neerwinden, unter Coburg. Mit den Kürassieren meiner Division lag ich im Quartier im Schlosse von Aumier-le-Trai. Wir hatten eben zusammen gespeist, getrunken dabei, waren in erregter Stimmung. So schritten wir zum Schlosse hinaus, in die Ellern-Allee vor demselben. Dort links von dieser liegt ein Teich, den unsere Leute als Schwemme benutzten. Wir sehen einen Mann der Schwadron mit zwei Pferden, von denen das Handpferd sehr unruhig ist, in derselben. Er führt eben die Thiere wieder heraus. Ich bemerke, daß er beide zu wenig in’s Wasser geführt, das Pferd des Mannes kaum bis über die Kniee vom Wasser umspült worden ist. Ich rufe ihm zu, er solle weiter, tiefer in den Teich reiten. Er gehorcht nicht; er antwortet, es sei zu gefährlich, weiter zu reiten, es befinde sich eine abschüssige Stelle dort. Gefährlich? Ich glaubte bemerkt zu haben, daß am vorigen Tage andere Leute ungefährdet weiter geritten seien; so herrsche ich ihm scheltend zu, er sei eine Memme, und befehle ihm zu gehorchen. Der Mann gehorcht; er wendet mit den Pferden – nach einigen Schritten macht das, welches er reitet, eine niederschießende Bewegung mit den Vorderfüßen; erschrocken darüber macht zu gleicher Zeit das Handpferd einen Seitensprung und reißt so den eben aus dem festen Schluß gekommenen Mann vom Rücken seines Thieres. Dieser stürzt in das Wasser, ruft, schlägt mit den Händen um sich, versinkt – wir stehen athemlos – dann, da er nicht wieder erscheint, werfe ich den Rock ab, eile in das Wasser, stürze mich zum Schwimmen in die tiefe Stelle – und eben im Begriff, den ertrinkenden Mann zu erfassen, erhalte ich einen Schlag vom Vorderfuße des einen der sich schwimmend rettenden Pferde – bewußtlos sinke ich selbst und komme erst wieder zum Bewußtsein, auf dem Rasen am Ufer des Teiches liegend, wohin einer meiner Cameraden, ein guter Schwimmer, mich gerettet hatte. Man war eben beschäftigt, den Mann aus dem Wasser zu holen – es gelang auch bald, aber der Mann war todt!“

„Todt!“ echoete mit einer eigenthümlichen Betonung, wie von innerer Beängstigung, Melusine.

(Fortsetzung folgt.)




Die „talentirte“ Lüderlichkeit auf der Bühne.
Von Ludwig Kalisch in Paris.

Nur wenige der lebenden Tondichter können sich rühmen, so vielgenannt zu sein wie Jakob Offenbach. An den Ufern des Manzanares wie an den Ufern der Newa, in Stockholm, in Cairo, selbst im ewigen Rom findet seine hochgeschürzte Muse freundliche Aufnahme. Schusterjungen und gekrönte Häupter pfeifen und trillern seine Weisen, und als der Selbstherrscher aller Reußen mit seinem Erbfolger Anno 1867 die Reise nach der Pariser Weltausstellung unternahm, schickte er von Köln ein Telegramm nach Paris, um sich dort eine Loge im Varietéstheater zu sichern und sogleich bei seiner Ankunft der Aufführung der „Schönen Helena“ beiwohnen zu können. Ich weiß nicht, wie lange die Unsterblichkeit Offenbach’s dauern wird; in diesem Augenblicke aber ist er gewiß der unsterblichste aller sterblichen Tonsetzer. Es ist also wohl der Mühe werth, etwas über seinen Lebensgang zu erfahren. Der geneigte Leser fürchte indessen nicht, daß ich bei der Lebensbeschreibung Jakob Offenbach’s bis zum Erzvater gleichen Namens hinaufsteige. Aber von seinem Vater muß ich doch sprechen. Dieser Mann hieß nicht Offenbach, sondern Eberst, und war in Offenbach geboren. Er war jüdischer Vorsänger und ein solch gebildeter Musiker, daß er größere Tonstücke, Sonaten, Concerte und selbst Symphonien componirte. Ja, er hat sogar ein Stück, „Der Schreiner in seiner Werkstatt“, in Musik gesetzt, das 1811 in Deutz zur Aufführung kam. Er soll auch ein trefflicher Mathematiker und gründlicher Talmudist gewesen sein, was ihn nicht verhinderte, von Zeit zu Zeit Verse zu machen. An vielseitigen Talenten fehlte es also dem Manne nicht; allein er lebte zu einer Zeit, wo den Juden das Talent in Deutschland wenig half. Da er in Offenbach keinen angemessenen Wirkungskreis finden konnte, siedelte er nach Köln über in der Hoffnung, sich dort bei der zahlreichen jüdischen Gemeinde eine ansehnliche Stellung zu erringen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 468. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_468.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)