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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

mir wohl, wenn’s doch noch etwas giebt, wo ich noch meinen freien Willen haben darf …“

Der Inspector erwiderte nichts mehr; seinen Spaziergang fortsetzend, schritt er an dem Sträfling vorüber, der ihm nachsah, als kämpfe er mit sich selbst, ob er ihn nicht zurückrufen solle, dann aber mit raschem Griffe seinen Rechen aufnahm, um einen Baumzweig anzuharken und niederzuziehen, an welchem das weiße Wollgespinnst eines Raupennestes sichtbar war.

„Was sagst Du nun?“ sagte der Inspector im Fortschreiten zu seiner Frau. „Habe ich nicht Recht? Du hast aus seinen Reden zur Genüge entnehmen können, daß er nur die Beschränkung seines Hochmuths, das Beugen seines Eigenwillens als eine Strafe fühlt – das Müssen allein ist es, was ihn drückt!“

„Das ist traurig!“ erwiderte die Frau. „Mir ward unheimlich bei diesem Menschen, und ich werde mich hüten, ihm wieder zu begegnen! Ein Glück, daß der Schreckliche unschädlich gemacht ist; wer weiß, welches Unheil der noch anzurichten im Stande wäre!“

„Das befürchte ich nun weniger; ich glaube vielmehr, jetzt, nachdem er gesehn und gefühlt, was ihn zu zwingen vermag – Gesetz und Recht – wird er sich hüten, wieder damit in feindliche Berührung zu kommen.“

„Und welche Bitterkeit in seinem Tone,“ rief die Frau, „als er von seiner Tochter sprach! Welcher Haß aus seinen Augen flammte, als er den Brief zurückwies – was hat ihm das Mädchen gethan?“

„Nichts, das ich wüßte – ich kenne sie nicht. Es kamen schon einige Male Briefe von ihr, die er immer annahm; aber jetzt muß ich zweifeln, ob er demungeachtet einen davon gelesen! Da Alles, was an einen Sträfling kommt, durch meine Hand gehen muß, las ich sie alle – das Mädchen scheint mehr Unterricht erhalten zu haben als ein gewöhnliches Landmädchen. Die Briefe enthielten nichts als einfache, herzliche Versicherungen ihrer Ergebenheit und die Bitte, es sie gleich wissen zu lassen, wenn etwas ihm gebrechen sollte, was sie ihm zu verschaffen im Stande sei … In dem heutigen theilt sie ihm mit, daß ihr gerathen worden, seine Begnadigung nachzusuchen, wozu indeß, wie ich vermuthe, wenig Hoffnung vorhanden sein dürfte …“

„Der Unwürdige verdient keine Gnade!“ rief die Frau. „Ich habe an ihm wieder einmal erfahren, wie sehr der Schein betrügt! Und sieh nur,“ unterbrach sie sich stillstehend, „was beginnt er doch?“ Sie standen eben an der Ecke des Rasen-Vierecks und konnten unter der Baumreihe hinweg auf den Platz mit der Urne sehen; statt der Antwort schritt der Inspector quer über das Grün und kam noch gerade recht, um zu erkennen, daß der Bergwirth die Viper, der er auflauerte, wirklich am Halse hart hinter dem Kopfe gefaßt hielt, daß sie sich wohl schlängeln und winden, aber nicht beißen konnte – die Frau kreischte auf bei dem Anblick und floh eilends dem Hause zu. Eben als der Inspector neben dem Bergwirth angekommen, hatte dieser sich zum Grase niedergebeugt; als er die Hand wieder erhob, war sie leer und das gefangene Thier daraus verschwunden.

„Was habt Ihr gethan?“ rief er dem Ueberraschten zu. „Ihr habt die Viper gefangen und wieder losgelassen?“

Der Bergwirth bewegte die Lippen aber die Rede ward nicht zum lauten Worte. „Leugnet nicht!“ fuhr der zürnende Beamte fort. „Ich habe deutlich gesehen, Ihr hattet das Thier fest gepackt, daß es Euch nicht entkommen konnte. Ihr beugtet Euch nieder. Ihr habt es absichtlich frei gelassen … Warum thatet Ihr das? Warum habt Ihr die Viper nicht getödtet, wie ich befahl?“

Der Wirth stand noch immer schweigend; sein Gemüth bäumte und wand sich auf unter der sittlichen Wucht, mit welcher der Ernst des Beamten auf ihm lastete, wie zuvor die Natter sich in seiner Hand gewunden. „Das Vieh hat mir leid gethan,“ stieß er rauh und kurz hervor, „ich hab’ Mitleid mit ihm gehabt …“

„Mitleid?“ zürnte der Inspector. „Ihr – der eine Schaar schuldloser Menschen dem Tode und der Verstümmelung ausgesetzt, Mitleid mit einem Thiere, das nur zu schaden vermag?“

„Der Beißwurm thut keinem Menschen was,“ grollte der Sträfling, „er beißt nur, wenn man ihn verfolgt … jedes Thier hat etwas, womit es sich wehren kann …“

„Ihr sagt mir nicht die Wahrheit,“ donnerte der Inspector. „So sehr Ihr es zu verbergen sucht, durchschaue ich doch Euer verstocktes Gemüth und sehe klar vor mir, warum Ihr so gehandelt habt! Nicht Mitleid hat Euch bewogen, das Thier frei zu lassen, – aus Bosheit habt Ihr es gethan! Ihr ließt es los, weil es ein schädliches Thier ist, weil Ihr ihm die Möglichkeit, schaden zu können, nicht nehmen wolltet! An einem solchen Charakter war meine bisherige Milde am unrechten Ort. Ihr seid nicht im Stande, die geringste Freiheit, die man Euch läßt, ohne Gefahr für Andere zu gebrauchen; aber noch ist es Zeit, das Versäumte einzuholen. Ihr sollt erfahren, daß ich die Macht und den Willen habe, Euch nachdrücklich in die Lehre zu nehmen! Hieher!“ rief er fortfahrend einem Gerichtsdiener zu, den das laute Gespräch in die Nähe gerufen hatte. „Führen Sie den Sträfling Obernöder in den Spinnsaal … er wird bis alls Weiteres Wolle kardätschen!“

„Herr Inspector,“ rief der Bergwirth, der rasch wie noch nie die Mütze vom Kopf gerissen hatte und sie mit beiden Händen an die Brust gepreßt hielt. Er war todesblaß geworden, die Zähne schlugen ihm aneinander und die Kniee zitterten. „Thun Sie mit mir, was Sie wollen,“ keuchte er, „aber sperren Sie mich nicht in den staubigen Saal … schicken Sie mich nicht zum Spinnen … ich muß zu Grund’ gehn, wenn ich die Luft nicht mehr hab’ und die Sonne …“

„Hinein – zur Arbeit!“ herrschte ihn der Inspector an. „Euer Bitten ist vergebens – Ihr seid jetzt nicht werth, daß Euch die Sonne bescheint!“

„Ist keine Hülfe?“ stammelte der Sträfling mühsam, „– muß ich wirklich …?“

„Ihr müßt! Es ist meine Pflicht und Schuldigkeit, während der Zeit, für die Ihr mir übergeben seid, zu sorgen, daß dem Beißwurm wenigstens die Giftzähne ausgebrochen werden … Fort mit Euch …“

„Nun, so soll’s auch sein,“ murmelte der Bergwirth knirschend. „Sie haben mich in Ihrer Gewalt. Sie werden wissen, was Sie dürfen … und ich – ich muß!“

Fest und aufrecht ging er mit dem Gerichtsdiener hinweg, ohne auch nur noch einen Blick auf den Garten zu werfen, von dem er scheiden mußte; kopfschüttelnd sah ihm der Inspector nach. „Ein solcher Starrkopf ist mir noch nicht vorgekommen!“ rief er. „Ich fange an zu zweifeln, ob die Strenge ihn zu brechen vermag … wenn der nicht von innen heraus mürbe wird, geb’ ich ihn verloren!“

Juliens Brief hatte außer dem, was der Inspector erwähnt, nur die Klage enthalten, daß sie, so oft sie auch geschrieben, niemals eine Antwort erhalten, und wie gute Hoffnung sie habe, endlich doch noch mit ihrem Gesuche durchzudringen. Der Sommer war ihr in dem stillen Versteck des Bahnwärterhäuschens dahin gegangen; sie hatte im Herbst die Buchen sich röthen und die Birken vergilben gesehen, und der Schnee, der winterlich um das einsame Hüttchen stürmte, hatte sie hinter den überfrorenen Fenstern gefunden, in kleinster Thätigkeit und engster Umgebung, aber die Umgebung bot dankbare Liebe und die Thätigkeit lohnte sich durch Gedeihen.

Der alte Postillon und seine noch ältere Mutter waren ein Bild zufriedenen Glücks, und wenn Bartel manchmal seine Bahnstrecke begangen und vom Schnee gereinigt hatte und dann in die behagliche warme Stube kam, dann rieb er sich lachend die Hände, sah in der Stube herum, die so hell und blank war wie ein Glasschränkchen, und meinte, daß er nun da sitze wie der Vogel im Hanfsamen und daß er sich getraue, eine Wette darauf einzugehen, daß es im dritten Himmel auch nicht schöner und vergnügter sein könne.

Auch Juli’s Gemüth hatte die Einsamkeit wohlgethan und ihr Ruhe gegeben, deren sie so sehr bedurft; die Begegnung mit Falkner hatte wieder alle Stürme entfesselt und alle Untiefen desselben aufgewühlt; genügt doch ein in’s Wasser geworfener Stein, die glatte Seefläche zu stören; lange, lange breiten sich die Ringe immer weiter und immer schwächer aus, bis sie vollends am Gestade ersterben; dann ist der Stein auf den Grund versunken, er hat aufgehört, eine Last zu sein, und ist zum unsichtbaren Kleinod, zum Geheimniß geworden. – Ueber das Zusammentreffen mit Falkner hatte sie gegen Bartel geschwiegen; sie vermied es überhaupt, von ihm oder von der verlorenen Heimath und Allem, was daran mahnen konnte, zu reden; das Einzige, was sie ein paarmal von ihm erbat, war die Besorgung von Briefen an ihren Vater und die Nachfrage, ob noch immer keine Antwort von ihm eingetroffen. Eines Tages brachte der Bahnwärter statt eines solchen das Gerede heim, der Bergwirth könne das eingesperrte Leben im Zuchthause nicht vertragen und sei krank geworden. Da war ihr Entschluß

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 479. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_479.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)