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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)


Ebenso reizend ist die Erzählung „Das Feenkind“; hier paßt der Inhalt zu dem humoristischen Tone der graziösen Schilderung, und der Humor, selbst wo er an die italienischen Muster des Barocken erinnert, hat eine wohlthuende Frische.

Die ottave rime, die Distichen lehrte Paul Heyse anmuthig plaudern im neckischen Conversationston; zuletzt gelang ihm dies auch mit dem feierlichen Vers der divina commedia, mit Dante’s Terzinen in der Demimonde-Novelle „Ein Salamander“, in welcher ein flüchtiges Liebesabenteuer mit seltener Kunst der Darstellung geschildert wird.

Sie haben die Wahl, Madame, unter den bunten Blüthen dieser kunstvoll gepflegten Gartenflora der Poesie; Sie werden die Kunst des Gärtners bewundern, der eine so anmuthig abgetönte Farbenpracht mit zauberischen Contrasten, der so ungewöhnliche Formen und Varietäten großzog; aber aus den verlockenden glänzenden Ausstellungen dieser Kunstgärtnerei werden Sie sich hinaussehnen zu den schlichten Waldblumen der Poesie, zu ihren frisch rauschenden Quellen. Tiefer Gehalt, hinreißende Begeisterung machen den großen Dichter, nicht eine die Formen meisternde spielerische Kunst.




Nachtseiten von London.[1]
Sociale Skizze von J. H…r.
2.
Unter der Obhut des Schutzmanns. – Penny-Suppen. – Die Höhlen von Whitechapel und Bethnal-Green. – Physischer und moralischer Unrath der Logirhäuser. – Schenkwirthschaften und ihre Orgien. – Mitten unter Gaunern. – Die elendesten Quartiere und ihre Bewohner.

Ehe ich von London schied, wollte ich das Abenteuer ausführen, in Begleitung eines Detective’s, d. h. eines Mitgliedes der geheimen oder Entdeckungspolizei, die in England indeß nur auf gemeine Verbrecher fahndet, nicht wie auf dem Continente sich mit Demagogenriecherei befaßt, eine nächtliche Wanderung durch die Armenquartiere zu machen; denn erst bei Nacht wird es hier recht lebendig, weil unter ihrer Hülle nun Alles, was bei Tage sich nicht sehen lassen kann, die äußerste Armuth, die nicht die nöthigen Lumpen zur Bedeckung findet, das Laster, dessen Verheerung keine Schminke mehr verbirgt, und das Verbrechen, welches das Auge der Gerechtigkeit fürchtet, sich hervorwagt. Wüste Orgien, in denen das Elend sich zu betäuben sucht, beginnen in den zahlreichen Schenken und Tanzlocalen. – Ein Londoner Kaufmann hatte für mich zwei Detectives gemiethet, von denen der eine mich im East-, der andere im Westend herumführen sollte; ein junger Geschäftsreisender aus Wien schloß sich noch der Gesellschaft an.

Um halb acht Uhr holte uns der eine der Detectives ab. Es war ein großer, wohlaussehender und fast feingekleideter Mann, dessen ganzes Auftreten uns sogleich Vertrauen einflößte und mit welchem wir uns denn auf die Imperiale eines Omnibus begaben, um durch die Stadt dahin ostwärts gegen Whitechapel zu fahren. In Whitechapel Road stiegen wir ab und befanden uns nun unter einer zahlreich auf- und abwogenden Menge von ganz anderem Charakter, als man sie in der City und in den schönen Straßen des Westends zu sehen gewöhnt ist. Alles in der schmutzigstem und ärmlichsten Kleidung, großentheils kleine und magere Gestalten mit bleichen Gesichtern. Es schien mir ein anderes Volk zu sein. „Es sind Irländer,“ sagte der Detective. Verdächtige Bursche und freche Weiber drängten sich, wohin wir immer den Fuß setzen mochten, an uns heran, Buben schwirrten um uns herum, wurden aber, wenn sie mit uns zusammenstoßen wollten, von dem Detective mit scharfen Worten verscheucht. Zu beiden Seiten der Straße waren hölzerne Buden aufgeschlagen, in denen Lebensmittel ausgeboten wurden; es war ein nächtlicher Markt, auf dem die hier sich herumtreibende Bevölkerung von dem Erwerb des Tages ein dürftiges Nachtessen sich kaufen mochte. Aus zahlreichen Schenken, die alle sehr besetzt schienen, drang ein verworrener Lärm heraus; an ihren Eingängen war immer viel Gesindel versammelt, darunter alte betrunkene Weiber, deren Aussehen und Gebahren den widerlichsten Eindruck machte.

Wir traten in ein Public-house der niedrigsten Sorte von Whitechapel Road, um hier den Detective für Eastend zu erwarten. Wir blieben an der Barre stehen und ließen uns Brandy geben, den ich aber nicht verkostete, sondern einem armen Weibe, das sich neben uns erschöpft auf eine Bank niedergelassen hatte, anbot, und der mit der größten Verbindlichkeit angenommen und auf mein Wohlsein in raschen Zügen verschlungen wurde. Allerlei zerlumptes Volk, namentlich junge Frauenzimmer, huschten an uns vorbei, man würdigte uns aber keiner besondern Aufmerksamkeit. Endlich kam der Erwartete, es war ein kräftiger, breitschulterig gebauter Mann, etwas über Mittelgröße, mit freundlichem Gesicht und artigen Manieren, in seinem langen schwarzen Rock einem Geistlichen nicht unähnlich. Ich sah, daß wir uns unter der besten Bedeckung befanden und ohne alle Besorgniß unser Unternehmen antreten konnten. Die Detectives riethen uns sogleich, dicht vor ihnen herzugehen, damit sie uns im Gesicht behalten könnten, und unsere Taschen wohl zu verwahren. Mir schien es, als seien die beiden Männer hier nicht unbekannt, denn mit Ausnahme von ein paar Frauenzimmern, die uns freundlich ansprachen, wurden wir von Niemandem belästigt.

An einer großen, von einem Glasdach überspannten Halle vorbei, die an der Straße lag und wo Penny-Suppen verabreicht wurden, ging es in die südlichen, gegen die Themse hinab reichenden Seitengassen von Whitechapel Road hinein, wo das niedrigste Volk, wie die Detectives sagten, wohnen sollte. Auf jeder Seite von Whitechapel liegen gegen zweihundert Gäßchen, führend zu Tausenden von enggepackten Nestern, Irländer- und Judencolonien, voll von Schmutz, Elend und Verkommenheit. Es waren zum Theil Diebesnester, durch welche wir nun wanderten, dürftig erleuchtet und mit ruinösen Häusern von jedem erdenklichen Anblick, mit großen Kehrichthaufen vor ihrer Fronte, in welche wir abwechselnd einsanken, denn man wirft hier den Schmutz aus den Fenstern auf die Gasse und läßt ihn vor den Häusern liegen, wo er sich nun zu kleinen Hügeln anhäuft.

Auf einmal schritt der Detective von Eastend in eine Hausflur, von wo aus wir in eine dunkle Passage kamen, die so schmal war, daß wir hinter einander gehen mußten; wir wateten durch Koth und Kehrichthaufen und gelangten zuletzt in einem kleinen viereckigen Hofraume an, in welchen aus einigen Parterre- und Kellerwohnungen ein schwaches Licht fiel. Wir sahen in dieselben hinein und entdeckten nur ein paar weibliche Bewohner darin, welche sich mit häuslichen Arbeiten beschäftigten. Soviel wir von den Kammern sahen, waren sie eng und nur mit geringem Trödel von abgenutztem Hausrath versehen. Ich wunderte mich, wie man hier leben könne; man belehrte mich aber, daß diese Art von Wohnungen sehr häufig in London sei. Sonne und frische Luft verirren sich wohl selten und spärlich in diese Höhlen, und so ist es gewiß richtig, was ein englischer Arzt von den Winkeln von Whitechapel und Bethnal-Green bemerkte, daß sie eine unablässige Fieberklinik seien. Der Bischof von London sagte im Jahre 1844 von der hier wohnenden Bevölkerung, daß ehedem die Aerzte das Fieber bei ihr durch Aderlässe behandelten; jetzt zögen sie stimulirende Mittel vor, da die Race so schrecklich degenerirt sei. Wenn die wahrscheinliche Lebensdauer eines Arbeiters in Westend sechsundzwanzig Jahre sind, so sind es in Whitechapel zweiundzwanzig, in Bethnal-Green gar nur sechszehn Jahre, woran freilich nicht allein die schlechten Wohnungen, sondern noch mehr die fast noch im Kindesalter beginnenden Ausschweifungen jeder, auch der schlimmsten Art Schuld tragen. Unser nächster Besuch galt einem Logirhause (Lodging-house), wo man für einige Pence ein Nachtlager erhält. Eine solche Herberge besteht immer aus drei Abtheilungen: einem größeren Zimmer, wo sich die Gäste vor der Nachtruhe aufhalten und mit Lesen, Rauchen, Plaudern, auch wohl Arbeiten beschäftigen (in einigen Häusern ist für jedes Geschlecht ein eigenes Versammlungszimmer bestellt); dann aus der Küche, wo die Zukehrenden sich gewöhnlich selbst ihr spärliches – gekauftes, erbetteltes oder gestohlenes – Nachtessen bereiten, und endlich aus den Schlafzimmern.

Das Lodging-house, ist welches wir getreten waren, wurde von

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 489. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_489.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)