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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

No. 32. 1870.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.


Die Thurmschwalbe.

Von Levin Schücking.
(Fortsetzung.)
10.

Graf Ulrich sah seine Gäste an der Mittagstafel wieder. Er begann mit dem Vicomte sofort von dem zu reden, was ihm seit der Unterredung mit dem Pastor Demeritus im Sinne lag.

„Sie bemerkten neulich, Herr Vicomte,“ sagte er, „ich müsse froh sein, daß eine Cousine des verstorbenen Grafen von Maurach nicht mehr unter den Lebenden sei, weil sie sonst die Erbin der Herrschaft geworden wäre. Ist dem wirklich so? Ich habe immer in meinem elterlichen Hause in Linz, wo mein Vater als kaiserlicher Kreishauptmann lebte, gehört, ich sei der Erbe, sobald der Lehnsvetter zu Maurach die Augen schließe; ich habe darauf hin lustig gelebt, mein bischen väterlich Gut verthan und meine Gläubiger darauf vertröstet. Könnte es denn wirklich möglich sein, daß eine neue Gesetzgebung mich um irgend einer alten Schachtel von Muhme willen, an welche Niemand gedacht hat, um all dies Recht brächte, mich und – meine armen Gläubiger?“

Der Vicomte nickte.

„Ich fürchte, daß dem so ist, Herr Graf,“ versetzte er. „Das Lehnswesen ist aufgehoben; die bloßen lehnsrechtlichen Erbansprüche fallen weg nach dem französischen Gesetze und zwar ohne alle Entschädigung. Anders ist es mit den Fideicommissen. Hier fallen die darauf gegründeten Erbrechte auch fort; jedoch erhält der erste Anwärter, dem vor der Aufhebung des Fideicommisses bereits ein jus quaesitum, wie die Juristen das nennen, zur Seite stand, eine Entschädigung …“

„Wie genau Sie das wissen – ich wollte, Sie wüßten auch, wo jene Muhme oder Cousine des letzten Grafen, die im Stammbaum durchstrichen ist und die, wenn sie noch lebte, mich aus meinem Recht verdrängen würde, eigentlich geblieben, wo und wie und in Folge welcher Abenteuer sie eigentlich zu Grunde gegangen ist! Dies ganz genau zu erfahren, wäre mir doch eine Beruhigung, müßte ich auch dabei zu meinem Schmerze vernehmen, daß die theure Verwandte irgendwo grausam um’s Leben gekommen, etwa aus dem Harem des Großtürken in den Bosporus versenkt, im Tower zu London wegen Hochverraths geköpft; von einer Horde Buschmänner am Cap aufgefressen, oder von Seeräubern in die Sclaverei des Deys von Algier verkauft worden sei, oder auf welche Art sonst das Leben der theuren Alten ein Ende gefunden haben mag!“

„Sie wissen in der That nichts darüber, Herr Graf?“ sagte aufhorchend der Vicomte.

„Nichts, als daß mir mein Vater gesagt, sie sei als junges Mädchen schon verschollen, mit einem Musikanten oder Schauspieler durchgegangen, und dann irgendwo in der Welt verdorben und gestorben.“

„Es wäre freilich gut, etwas Gewisses darüber zu erfahren,“ sagte bedächtig und fast mit sorglicher Miene der Vicomte.

„Und was würden Sie thun, wenn solch’ eine Verwandte nun mit Erbansprüchen vor Ihnen auftauchte?“ fragte Melusine.

„Ah … das wäre sehr arg,“ versetzte Graf Ulrich. „Ich müßte schon etwas thun, sie unschädlich zu machen! Ich müßte sie zum Beispiel heirathen!“

„Das ginge doch nur, wenn sie jung, von Ihrem Alter wäre,“ warf Melusine ein – „und wenn sie es wollte …“

„Wenn sie jung wäre?“ unterbrach Graf Ulrich sie – „nein, dann just ginge es nicht!“

„Und weshalb dann nicht?“

Graf Ulrich lachte, als er antwortete: „Das sehen Sie nicht ein? Wenn sie alt wäre, wär’s ein ehrlicher Handel: ich verkaufte mich ihr, für die Herrlichkeit Maurach mit Schloß, Acker, Wiese, Wald und den Kohlenzechen, die sie mir zubrächte. Sie hätte mich, ich ihren Reichthum! Keiner wär’ da übervortheilt. Anders wär’ es, wenn sie jung und hübsch wäre. Dann wäre aller Vortheil auf meiner Seite; und für eine solche demüthigende Lage würde ich danken. Nimmermehr!“

„Aber wenn sie selber Ihnen entgegenkäme und Ihnen diese Lösung der schwierigen Situation anböte?“

„Das ist nicht denkbar, meine verehrte Cousine … mir kommen die Frauen nicht entgegen; ich bin nicht von jener liebenswürdigen Männersorte, Gott sei Dank nicht; welcher die Frauen entgegenkommen! Die, welche ich besitzen will, muß ich mir erobern und das ist mir weitaus lieber! Sie glauben mir nicht?“

„Was? Daß die Frauen Ihnen nicht entgegenkommen?“

„Nein, nein,“ rief Ulrich lachend aus; „das glauben Sie mir von Herzen gern; nur nicht, daß ich im Stande, sie mir zu erobern!“

„Es kommt darauf an, was Sie unter ‚erobern‘ verstehen. Daß Sie ruchlos genug sind, irgend ein Mädchen mit Gewalt zu entführen …“

„O, das wäre schändlich,“ fiel Graf Ulrich mit angenommener Entrüstung ein; „nein, nein, unter ‚erobern‘ verstehe ich; ein stolzes widerspänstiges kaltes Herz unterjochen, es zwingen, sich zu ergeben …“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 497. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_497.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)