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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

und vielleicht auch an ihrer Tochter, der armen, Allen an’s Herz gewachsenen Thurmschwalbe, an diesen beiden hülflosen, in ihren Thurmzimmern da oben von den anderen Schloßbewohnern so entfernten und so schutzlosen Frauen. Eine Stallmagd, die Morgens den Thurm zuerst zu betreten und der Frau Wehrangel frisch gemolkene Milch zu ihrem Frühstück zu bringen pflegte, war schreckensbleich und schreiend mit dieser Nachricht in die Gesindestube gestürzt gekommen, es war dann Alles aufgesprungen und auf dem kürzesten Wege draußen über die Terrasse in den Thurm gerannt, um hinaufzusteigen, die Männer voran, die Mägde angsterfüllt mehr und mehr zurückbleibend, je höher sie auf den steilen Stiegen hinaufkamen. Sie hatten gefunden, was, vor Schrecken und Entsetzen halb besinnungslos, die Stallmagd stotternd und ohne Zusammenhang berichtet: die in das Wohnzimmer der Frau Wehrangel führende Thür halb offen, die Frau selbst in diesem Zimmer, in ihren Nachtkleidern, auf dem Boden, auf einem Teppich vor dem Tische liegend, ermordet mit drei Wunden, aus denen das Blut das weiße Nachtkleid überströmt hatte. Es herrschte Unordnung im Zimmer, die Möbel standen verschoben, aber weitere Spuren von Kampf und Gewaltthätigkeit waren nicht sichtbar; auf dem Tische war die Lampe eben im Verqualmen begriffen gewesen. Von der Thurmschwalbe war keine Spur zu entdecken. Bei näherer Nachforschung hatte sich ergeben, daß ein Eckspind erbrochen offen stand und daß der Hut und der Mantel der Thurmschwalbe fehlten.

Während die Mägde nach diesen Kleidungsstücken sich umgesehen, hatte der Gärtner ausgerufen: „Zum Herrn, zum Herrn! Lauf’ doch Einer zum Herrn hinüber!“

„Der Herr,“ war Joseph hier mit bestürzter Miene eingefallen, „der Herr war diese Nacht nicht in seinem Bette.“

„Nicht in seinem Bette?“ hatten die Anderen, sich bei dieser merkwürdigen Versicherung um Joseph drängend, ausgerufen.

„Nein, ich habe zwischen zwölf und ein Uhr nach ihm sehen wollen; er war nicht da!“

„Er ist fort,“ sagte hier ebenso bestürzt der Reitknecht; „er ist mit dem schwarzen Gaul davongeritten; als ich in der Frühe in den Stall kam, war der Stall noch leer.“

Die Leute sahen sich mit großen Augen an; in Aller Gehirn war nur noch Ein Gedanke! Der Gärtner sprach zuerst wieder und sagte:

„Nun, dann laufe Einer nur rasch in’s Dorf zum Richter; das ist das Nöthigste. Und bis der kommt, laßt Alles hier ganz so, wie es liegt und steht; rührt nichts an, Leute; verrückt nicht das Mindeste – lauft zum Richter, sage ich!“

Der Gärtnerbursche und der Stalljunge waren zum Richter im Dorfe gelaufen; unterwegs in der Allee hatten sie den Pastor Demeritus gefunden – ihm war das Messelesen untersagt, so konnte er die Morgenstunden zum Spazierengehen verwenden – er ging mit dem aufgeschlagenen Breviere in der Hand; als die beiden Boten ihm zuriefen, was geschehen, erblaßte er und starrte sie stumm an.

„Nicht möglich!“ sagte er dann, schwer aufathmend, „nicht möglich … wer sollte das gethan haben?“

„Der Herr ist diese Nacht nicht in seinem Bette gewesen und ist mit seinem Rappen auf und davon!“ rief der Stalljunge aus.

In des Pastors verkniffene Züge kehrte die Farbe zurück.

„Ah!“ sagte er, wie unter einer Last aufathmend. „Der Herr! Ja, ja, ja … der Herr!“

„Wir holen den Richter!“ fuhr der Gärtnergehülfe fort.

„Ja, thut das, thut das!“ rief der Pastor in zitternder Erregung aus … Lauft nur, lauft, ich folge Euch; ich kann dem Richter über die Sache Licht geben!“

Er war den Jungen gefolgt; er war mit dem Richter dann zum Schlosse geeilt; er hatte auf dem Wege dahin dem Beamten Licht geben können, ein merkwürdiges Licht und genug jedenfalls, um den Richter im Voraus nicht im Zweifel zu lassen, von wem dies schreckliche Verbrechen ausgegangen und was das Motiv desselben gewesen.

So war der Beamte zum Schlosse gekommen und hatte in dem Zimmer der Ermordeten den unterdeß durch die Aufregung der Leute herbeigezogenen Vicomte de la Tour und seine Tochter gefunden und ausgefragt, untersucht und inquirirt und aus des Vicomte und Melusinens Munde Bestätigung dessen, was der Pastor Demeritus ihm enthüllt, erhalten, insofern sie es eben bestätigen konnten, bis weder er noch diese letzteren irgend einen Anstand nehmen durften, offen ihre Ueberzeugung auszusprechen, wer der Mörder sein müsse! Und dann hatte sich der Friedensrichter, um seine Erhebungen schriftlich abzufassen und zu einem regelrechten ersten Verhöre der Anwesenden zu schreiten, in das Wohn- und Schlafzimmer des Grafen Ulrich Maurach begeben – keineswegs gefaßt darauf, dort so plötzlich durch die Erscheinung des Grafen gestört zu werden, den Alle für flüchtig und längst weit entfernt hielten.

Während der Richter sich jetzt mit der Fassung seines Protokolls beschäftigte, war der Vicomte, sich auf den Arm seiner Tochter stützend, in sein Zimmer zurückgekehrt. Der durch seine Schicksale, durch alle die Erlebnisse seiner wechselvollen Vergangenheit mürbe gemachte Mann war in einer Gemüthsbeschaffenheit, daß ihm das Gehen, ja das Aufrechtsitzen schwer wurde. Er sank in einen Armsessel zusammen und begann laut zu jammern und sich anzuklagen. Er, er war ja der gewesen, der die nächste Veranlassung zu der entsetzlichen That geworden. Er hatte durch seine Reden den Grafen Ulrich aufgehetzt; er hatte ihm gezeigt, was für ihn auf dem Spiele stehe, wenn jene Verwandte Ernestine noch lebe; er hatte ihn veranlaßt, mit der Frau Wehrangel darüber zu reden, und nun hatte diese Frau, mit der Graf Ulrich sonst vielleicht noch jahrelang in friedlichster Eintracht zusammengelebt, diesem gestanden, bewiesen, daß sie, Niemand anders als sie, die verschollene Verwandte sei, welcher das Erbe des letzten Maurach gehöre; hatte sie bisher darüber zu schweigen Gründe gehabt, so hätte sie wahrscheinlich auch noch jahrelang darüber geschwiegen … wenn nicht er, er, der Vicomte, diese unselige Unruhe über die Sache an den Tag gelegt und den Graf Ulrich angetrieben …

Melusine unterbrach hier mit einer ganz leidenschaftlichen Heftigkeit ihren Vater. Sie war, ohne, wie es schien, auf ihn zu hören, in dem Zimmer auf- und niedergeschritten, hastig mit gespannten, bald bleich, bald roth werdenden Zügen, mit allen Zeichen einer gar nicht zu bemeisternden Erregung. Jetzt rief sie aus: „Ich bitte Dich, schweig, Vater, schweig und halt inne mit diesen thörichten Anklagen gegen Dich, gegen uns. Der Graf ist gar nicht durch uns zu seinen Nachforschungen gedrängt worden, das hat er uns ja selbst gesagt, sondern er hat von anderer Seite her Warnungen erhalten, durch jenen Herrn Lohoff, der, wie wir jetzt erfahren haben, der Mann der Ermordeten und der Bruder des Pastors, der dies Licht in die Sache brachte, ist … und, Vater, ich bitte Dich –“ Melusine blieb, als sie dies hinzufügte, plötzlich vor ihrem Vater stehen wie beschwörend die Hände erhoben, fast drohend, und so fuhr sie fort: „Und, Vater, ich bitte Dich, läßt denn auch Du Dich so von dem Anscheine täuschen; hast denn auch Du den einfältigen Glauben, Graf Ulrich habe diese Frau Wehrangel ermordet?“

Der Vicomte fuhr bei dieser überraschenden Anrede aus seiner ruhenden Stellung empor. Er riß weit die Augen auf, und seine Tochter anstarrend, sagte er: „Anschein? Einfältiger Glaube? Aber ich meine, Du selbst zeigtest Dich doch sehr überzeugt von dem, was Du jetzt einen einfältigen Glauben nennst! Die Umstände zeugen mit mehr augenscheinlicher Klarheit wider diesen Mann, als irgend nöthig ist; und wenn er anfangs auch mit bewundernswerther Schauspielerkunst den Ueberraschten, Nichtswissenden spielte, so legte er ja selbst bald darauf ein unumwundenes Geständniß ab.“

Melusine wandte ihrem Vater den Rücken und schritt, wie zu zornig, um nur antworten zu mögen, dem Fenster zu.

„Graf Ulrich mag sein, was er will,“ versetzte sie dann die Worte unwillig hervorstoßend, „ein Schauspieler ist er nicht!“

„Aber ich bitte Dich, sein eigenes offenes Geständniß …“

„Sein Geständniß! Als ob der offenbarste Hohn zu verkennen gewesen wäre, der durch das Geständniß hindurchklang – die schneidendste Ironie!“

Der Vicomte sah einige Augenblicke wie hülflos und aus allen Geleisen geworfen auf seine Tochter, die fortfuhr, ihm den Rücken zuzuwenden, und jetzt ihre Stirn gegen die Fensterscheibe neigte. Endlich hub er wieder an: „Aber Melusine, ich begreife Dich nicht; die arme Frau da oben ist doch ermordet; wir haben doch selbst den schrecklichen Anblick gehabt; wir haben sie in ihrem Blute schwimmen sehen – wer anders sollte es gethan haben als er? Wir, die Einzigen die auch ein Interesse bei dem Leben oder Tode dieser Frau hatten, wir haben es nicht gethan; wir ahnten nicht einmal, daß sie …“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 531. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_531.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)