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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

Stunden bis zum Abmarsch, jubelte aber, daß die Franzosen, die man vorbereitet glaubte, noch nicht angriffen, ehe die zur Mobilisierung der ganzen preußischen Armee erforderlichen elf Tage verstrichen waren. In Coblenz war man indessen in manchen Regimentern schon am neunten Tage fertig. Die Artillerie hatte über tausend Mann mehr, als sie brauchen konnte, und dasselbe war der Fall mit dem vierten Garde-Grenadier-Regiment, dessen Reserve-Bataillon vierhundert Mann über den Etat hatte. Man sprach von der Bildung eines fünften Bataillons, da die Leute sich nicht nach Hause schicken lassen wollten. Leute, die irgend einen Fehler hatten, der sie zum Felddienst untauglich machte, verbargen ihn mit größter Sorgfalt und waren untröstlich, wenn man ihn entdeckte und sie zurückwies.

Eine so allgemeine Begeisterung des Volkes ist in der Geschichte noch nicht da gewesen, wenigstens nicht in solcher Ausdehnung und Plötzlichkeit. Andere Nationen werden staunen und am meisten darüber, daß die Deutschen, die dafür leider bekannt sind, daß sie beständig untereinander zanken und hadern, wie Ein Mann sich erheben, sobald ihre nationale Unabhängigkeit als Deutsche bedroht wird. Alle Parteien suspendiren sogleich ihre Zänkereien; aller Particularismus schweigt gegenüber der Gefahr, die von dem französisch redenden Nachbar droht. Der Baier, der Sachse, der Hannoveraner und sogar der unversöhnlichste Frankfurter vergißt das Jahr 1866 mit seinen Bitterkeiten und reicht dem tapfern Preußen die deutsche Bruderhand. Jeder hilft, daß dieser Krieg ein gerechter, ein nationaler ist.

Wir stehen am Eingange der deutschen Periode der Weltgeschichte. Das große intelligente deutsche Volk ist endlich im Begriff, die Stelle in der Reihe der europäischen Nationen einzunehmen, die ihm von Rechtswegen gebührt; eine Stelle, die es schon lange eingenommen haben würde, wenn alle seine Stämme vereinigt gewesen wären und die Politik der alten Zeit sie nicht gegeneinander gehetzt hätte. Daß freilich die frühere Zersplitterung Deutschlands andererseits wieder das deutsche Volk zum gebildetsten und intelligentesten der Erde gemacht hat, indem jeder der hundert kleinen fürstlichen Höfe als Centralpunkt Bildung und Intelligenz ausstrahlte, ist bekannt. Und wenn trotz alledem manche Nationen, unter denen die häufig genug durch die Schuld ihrer Fürsten in alle Welt gejagten Deutschen lebten, diese mit einer halb spöttischen, halb mitleidigen Geringschätzung behandelten, – so geschah dies nur wegen der politischen Unbedeutendheit und Ohnmacht einer so großen Nation, die eine Sprache redete, allein deren Stämme sich gegenseitig als Fremde, wo nicht als Feinde betrachteten.

Ich war im Jahre 1866 in Amerika und weiß, welchen Eindruck der Heldenmuth der Preußen auf die Amerikaner machte und mit wie günstigem Auge sie die Bestrebungen des Grafen Bismarck betrachteten. Die Deutschen gewannen augenblicklich in ihrer Achtung. Das Wort dutchman, womit jeder Deutsche in den Vereinigten Staaten verächtlicherweise bezeichnet wurde, hörte auf ein Schimpfwort zu sein.

So schmerzlich auch der Localpatriotismus mancher Deutschen in 1866 verletzt sein mochte, so freute sich doch jeder über die gesteigerte politische Bedeutung der Deutschen, und die Sehnsucht nach vollkommener Bereinigung aller Stämme wurde mit jedem Jahre dringender und allgemeiner. Die mehrmals versuchten Einmischungen Napoleon’s in deutsche Angelegenheiten und das verrückte Rheingelüste der Franzosen – verrückt, weil die Rheinufer von deutschredenden Menschen bewohnt werden – hatte die deutsche Nation schon längst ungeduldig gemacht, und die Frechheit, mit welcher Napoleon gegen das Oberhaupt des Nordbundes auftrat, verletzte nicht nur die Angehörigen dieses Bundes, sondern alle Deutsche. Jeder fühlte sich persönlich beleidigt und bedroht, und die Kriegserklärung Frankreichs wurde überall mit Jubel angenommen; man war allgemein froh, daß das Ungewitter endlich zum Ausbruch kam, und empfand, dieser Krieg werde geführt um die nationale Ehre und Existenz der deutschen Nation, – um den Frieden. Siegt Deutschland, so darf keine Nation Europas es wagen, den Frieden zu stören ohne den Willen Deutschlands, und Deutschland will nie Krieg aus bloßer Kriegs- und Eroberungslust. Der Störenfried aber, der Feind des Friedens, ist der alternde Abenteurer in Paris. Um sich und seine Familie zu halten, stürzt er die Welt in Krieg; die Rheingrenze und Belgien würde ihm wahrscheinlich dieses Ziel sichern. Spielt Napoleon auf diese Weise nur um seine Krone, so kämpft Deutschland um seine politische Existenz. Dem ersteren folgt ein von Ehrgeiz und Muth beseeltes Heer, aber hinter demselben steht ein Volk, welches den Räuber seiner Freiheit so ziemlich durchschaut und trotz alles Ehrgeizes einsieht, daß ein Sieg seine Ketten nur fester schmiedet, da es ein Sieg des Cäsarismus wäre.

Ich wurde in Coblenz eingeladen, einem Exerciren des vierten Garderegiments beizuwohnen. Das Regiment, ohne Reserve dreitausend Mann stark, hatte nahe an fünfzehnhundert Kriegsreservisten bekommen, die noch ein paar Tage vorher das Feld pflügten, und der Oberst, Graf Waldersee, wollte vor dem auf den Sechsundzwanzigsten festgesetzten Ausmarsch sein Regiment zusammen sehen. Ich ging also auf den schönen Exercirplatz auf der Centhause, wo ich das Regiment versammelt fand. Nach einigen Bewegungen in den Compagnien und Bataillonen wurde das Ganze zusammengezogen und ein regelmäßiger Angriff gemacht, der mit einer Bajonnetattaque endete. Das nur kurze Exerciren schloß mit einem Vorbeimarsch in Compagniefront, zweiundsiebenzig Rotten stark. Auf dem Heimweg wurde ich dem Obersten vorgestellt, der fragte, wie mir sein Regiment gefallen habe. Ich sagte ihm meine Meinung und mit Vergnügen, da sie eine in jeder Hinsicht lobende war. Ich habe sehr viele Truppen aller Nationen in meinem Leben gesehen, allein bei keiner Armee der Welt würde es möglich sein zu erreichen, was ich hier sah. Trotz der fünfzehnhundert neueingetretenen Leute ging jede Bewegung mit einer Präcision und Fertigkeit, als sei sie wochenlang vorher eingeübt worden. Ich sah hier mit Interesse zum ersten Mal das Feuern in vier Gliedern, bei welchem die zwei vorderen Glieder niederknien. Was mir bei dem Feuern der Tirailleure sowohl als im Gliede besonders überraschend auffiel, war die bedächtige Ruhe, mit welcher die Soldaten zielten, was ihnen eine große Ueberlegenheit über die schnell puffenden Franzosen geben muß, die immer hitziger werden, je mehr sie knallen.

Die Bajonnetattaque wurde mit Feuer und dennoch mit wunderbarer Ordnung ausgeführt, und der Vorbeimarsch zum Schluß war trefflich. Das Regiment sah außerordentlich schmuck aus, denn sie hatten Alle nagelneue Uniformen an, wie es beim Mobilmachen der Armee in Preußen Regel ist.

„Ja, ja,“ sagte Graf Waldersee, „ich glaube auch, daß mit solchen Leuten etwas zu machen ist.“

Ich glaube das in der That auch, und da die anderen Regimenter, die ich in Coblenz sah, hinter dem Garderegiment nicht zurückstanden, so ist mein Vertrauen in den Sieg unserer Armee befestigt worden, besonders da der Geist der Leute nicht besser sein kann, als er es ist.

Die Festungswerke von Coblenz boten ungefähr denselben Anblick, wie die von Köln. Man hatte bis dahin noch die schönen Promenaden am Rhein verschont und wird sie verschonen, so lange es möglich ist. Am frühen Morgen marschirte das 4. Grenadierregiment nach dem Hundsrück zu ab und langte am 28. Abends in Kirn an, wo es am 29. einen Ruhetag hatte. Ich fuhr um zehn Uhr mit dem Dampfschiffe „Hohenzollern“ nach Mainz ab, da nur ein einziger Zug am Tage ging. Die Truppen brauchten alle Züge, denn fünf Tage lang passirten täglich sechsunddreißigtausend Mann Coblenz, um zur Front zu eilen, wo in erster Linie allein dreihundertundfünfzigtausend Preußen stehen.

Ich sah in Coblenz General Herwarth von Bittenfeld, dem man einen Ehrenposten gegeben hat, während man sein achtes Armeecorps einem jungen General, v. Goeben, anvertraute, der sich 1866 in Süddeutschland auszeichnete. Ueberhaupt hat die preußische Regierung dem Grundsatz gemäß gehandelt, daß es besser sei, die Eitelkeit oder selbst das Ehrgefühl eines einzelnen Mannes zu verletzen, als ihm das Wohl und Wehe von vielen Tausenden anzuvertrauen, wenn sie seinen körperlichen oder geistigen Fähigkeiten mißtraut. Eine bedeutende Anzahl aller verdienter Generale, die dem Könige sehr lieb und teuer sind, sind aus diesem Grunde übergangen worden.

Auf dem Dampfschiffe traf ich mehrere Officiere, die bis Boppard gingen, und unter ihnen einen Obersten, der früher beim Generalstabe gestanden hatte und im vorigen Jahre im Lager von Chalons gewesen war. Er lobte im Allgemeinen die Infanterie und auch die Artillerie, obwohl er manche Mängel an den französischen Geschützen nachwies, mit denen sich zum Beispiel kein wirksamer Kartätschschuß erzielen ließ, zu welchem Ende man die

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 534. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_534.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)