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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

Und ohne des Pfarrers Genehmigung abzuwarten, griff er nach seinem Hute und eilte davon, dem Schlosse wieder zu.

Als er außerhalb des Dorfes und in der Schloßallee war, blieb er stehen, schaute sich um, als ob er sich vergewissern wolle, daß er nicht mehr beobachtet werde, und dann schlug er rasch einen durch das hohe Kornfeld zu seiner Rechten führenden Fußsteig ein, denselben, den gestern der Fremde, welchen wir jetzt als seinen Bruder kennen, eingeschlagen hatte. Er eilte auf diesem Pfade dahin, gelangte auf einen breiteren Ackerweg, der sich südwärts weiter zog, und folgte ihm eine starke Viertelstunde lang.

Am Ende dieser Viertelstunde sah er sich am Ufer des Flusses, den wir als südwärts vom Schloß Maurach dahinführend erwähnt haben. Es war eine Ueberfahrt da; das Haus des Fährmanns stand rechts, ein großes Fährschiff und Nachen lagen am Strande. Pastor Lohoff aber ging nicht so weit. Er bog um das Haus herum und befand sich bald in dem schattigen Gehölz, das sich hier abwärts den Fluß entlang zog. Ein wenig betretener Fußpfad lief durch üppiges Unterholz und unter vereinzelt stehenden Eichen hin; anfangs sah man rechts wie links den Horizont durch die Bäume schimmern, nach und nach wurde das Gehölz breiter und mächtiger, die Wipfel verdichteten sich und den Schreitenden umfing überall dichter Schatten. Endlich wurde ein dunkles Bauwerk hinter dem vorwuchernden und den Pfad bedeckenden Zweigwerk sichtbar. Es war ein ganz kleiner, aus rohem Ziegelbau ausgeführter Jagdpavillon, nur mit einer Thür und einem Fenster versehen; vor dem Fenster war einer der Läden niedergefallen und lag unten am Fuß der Mauer im hohen Riedgrase; der Verfall starrte aus allen Fugen des kleinen Bauwerks, das sich irgend ein früherer Graf von Maurach für sein Jagdvergnügen hierher gebaut haben mochte. Aber verlassen war darum der Ort nicht; die Thür stand halb offen und der Pastor hörte, als er mit leisem Schritte sich dieser Thür genähert hatte, daraus die Stimme eines Redenden, die Stimme dessen, den er hier zu suchen gekommen war; er blickte, sich auf den Zehen erhebend, durch die Thür, welche über ein paar alter moosiger Steinstufen hineinführte, und sah im Innern des kleinen achteckig gebauten Raumes eine Gruppe, bei deren Anblick ein eigenthümlicher Ausdruck in seine ganz unmerklich sich verfärbenden Züge trat.

Es befand sich im Hintergrunde des Raumes ein Kamin. Vor denselben, da er seit Jahren wohl nicht mehr benutzt worden, war ein altes hölzernes Gartenkanapee geschoben; auf diesem, den Kopf auf der Seitenlehne ruhen lassend, lag Annette Wehrangel; der junge Geistliche aber kniete vor ihr auf dem Boden, hielt in seinen beiden ihre rechte Hand und sprach eifrig auf sie ein.

„Nein, nein; nein,“ rief sie heftig dawider aus … „ich kann, ich kann, ich werde es nicht; nie, niemals! Und wenn Du, auch Du mich verläßt, Heinrich, dann – o sag’ es mir, sag’ es mir gleich, – dann mach’ ich diesem unglückseligen Leben ein Ende, dann stürze ich mich in dieser Stunde noch in den Fluß da drüben – dann folg’ ich heut’ noch meiner armen, armen Mutter!“

Eine Fluth von Thränen strömte über ihre Wangen.

Der junge Geistliche wollte antworten, aber das Wort erstarb auf seiner Lippe. Mit einem Ausruf des Erschreckens wandte er sich – der Pastor war auf die Schwelle getreten. Beide fuhren in die Höhe, Annette, als sie den Eintretenden erkannt, legte ihren Kopf wieder auf die Lehne, schloß die Augen und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. Der junge Geistliche trat heftig vor den Pastor.

„Was wollen Sie?“ sagte er drohend.

„Sicherlich nichts Uebles,“ entgegnete der Pastor und setzte sich, tief Athem schöpfend, auf die Bank zu den Füßen Annettens. „Sicherlich nichts Uebles. Ich suchte Euch und finde Euch hier, wo ich Euch suchte. Da … wenn man nicht gefunden sein will, muß man nicht solche Zettel auf dem Boden seines Zimmers umherfahren lassen!“

Der Pastor zog aus der Westentasche ein kleines zerknülltes Stück Papier hervor, auf dem mit Bleistift die Worte gekritzelt waren: „O komm’, komm’ gleich in das Waldhaus. A.“

Der junge Geistliche warf einen Blick darauf und nahm den Zettel an sich.

„Ich habe nicht darauf geachtet,“ sagte er mit seinen todtenbleichen gespannten Zügen den Pastor ansehend, „der Knabe des Fährmanns hat ihn mir in der Frühe gebracht, und nun Sie ihn gefunden haben und uns hierher gefolgt sind, so reden Sie, erzählen Sie, was Sie wissen … ist denn all’ das, was Annette mir sagt, ist all’ dieses Wahrheit, diese ganze entsetzliche Geschichte von Verbrechen und Mord und …“

„Gewiß ist es Wahrheit … aber ich komme nicht, um zu erzählen, ich komme, um zu hören,“ versetzte hastig der Pastor; „sprechen Sie, lassen Sie Annette sprechen; sie muß es wissen, wie Alles gekommen, wie es geschehen ist … sie allein kann es sagen –“

„Sie kann es, sie hat es mir gesagt, und nun,“ rief der junge Geistliche dagegen, „helfen Sie mir, sie überreden, daß sie sich aufmacht von hier, wo sie doch nicht bleiben kann, daß sie, was sie erlebt, kund thue, daß die Gerichte erfahren –“

„Sacht, sacht,“ fiel hier der Pastor rasch ein, „was gehen Sie die Gerichte an? Haben Sie solche Eile, vor das Gericht zu kommen, damit man möglichst bald erfahre, in wessen Schutz die Thurmschwalbe sich geflüchtet hat?“

„Das mag man erfahren,“ sagte der Geistliche, „ich kümmere mich nicht darum, ich werde mich nicht im Mindesten darum kümmern, welche Glossen man darüber macht, und ich werde darum nicht einen Augenblick aufhören, Annetten den Schutz zu gewähren, in den sie sich zu flüchten für gut gefunden hat. Merken Sie sich das, oder …“

Der junge Geistliche sagte dies dunkelroth werdend und mit zornig flammenden Blicken auf den Pastor.

„Ach, es ist die Zeit, Händel mit mir zu suchen!“ rief dieser. „Reden sollen Sie, erzählen, sprechen, das Mädchen da soll sprechen, und dann wollen wir sehen, was zu beschließen ist. Annette, raffen Sie sich auf, ermannen Sie sich, sagen Sie mir Alles, auch das Kleinste, das Geringfügigste, was Sie gehört, gesehen haben in dieser furchtbaren Nacht, die Sie erleben mußten; wie ist Alles gekommen? ich muß, ich muß es wissen …“

Der Pastor sprudelte das mit einer zornigen Heftigkeit hervor, die mit seiner gewöhnlichen spöttischen Ruhe in großem Contrast stand; der junge Geistliche aber trat zwischen ihn und das schluchzende junge Mädchen.

„Quälen Sie Annette nicht,“ rief er aus, „wie kann das arme Mädchen noch einmal Alles erzählen; Sie sehen ja, in welchem Zustande sie ist …“

„Nun, dann erzählen Sie, sagen Sie mir, was Sie von ihr vernommen haben. Ich habe ein Recht, Alles zu erfahren, das heiligste Recht; ich bin, mögen Sie es wissen, wenn Sie es von ihr nicht erfahren haben, der Oheim dieses Mädchens, ich habe ihre ermordete Mutter getraut, ich selbst, mit meinem leiblichen Bruder!“

Annette schlug ihre Augen auf und warf einen erschrockenen Blick auf den alten Geistlichen.

„Das wußt’ ich nicht,“ sagte sie mit bebender Lippe. „Der entsetzliche Mensch, der sich meinen Vater nannte, sagte das nicht!“

„Und doch ist es so,“ fuhr der Pastor fort, „also sagen Sie Alles! Gut, daß Sie wenigstens Ihren Vater kennen, und nun Sie wissen, daß er mein Bruder ist, wissen Sie auch, daß nun ich Ihr Beschützer, Ihr Vormund bin; ich, ich allein habe das Recht, Ihnen beizustehen Ihnen zu rathen, Ihre Schritte zu lenken. Wir haben ein, nur ein Interesse jetzt, das, Ihren Vater zu retten, wenn er der Mörder ist. Er muß gerettet werden, wir müssen ihn schützen vor jedem Verdacht, er muß mindestens vollauf Zeit gewinnen, sich in Sicherheit zu bringen; aber so reden Sie doch, ist er der Mörder, oder ist es der Graf Ulrich, dessen sich das Gericht bemächtigt hat …“

„Der Graf Ulrich?“ riefen hier der junge Geistliche und Annette zu gleicher Zeit aus, – „und dessen hat sich das Gericht bemächtigt?“

„Nun ja,“ entgegnete der Pastor, „und er ist es nicht? Nein, er ist es nicht,“ fuhr er, die Hände zusammenkrampfend, fort, „ich seh’s, ich seh’s an Ihren Mienen, er ist es nicht; vergebens habe ich mir selbst vorlügen wollen, daß er’s doch sein könne … o mein armer Bruder, was hast Du gethan!“

Der sonst so kalte, höhnische, auf alle Creaturen der Welt mit so eisiger Gleichgültigkeit herabblickende Mann zeigte plötzlich eine Erschütterung, einen Schmerz, welcher bewies, daß er wenigstens durch Eine starke Faser mit einem lebenden Wesen auf Erden zusammengehangen – mit seinem Bruder!

„Annette, Annette, Du siehst,“ rief der Caplan dazwischen in seiner Erregung, das fremde ‚Sie‘ vergessend, „Du siehst, wie

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 551. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_551.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)