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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

No. 36. 1870.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.


Die Thurmschwalbe.
Von Levin Schücking.
(Fortsetzung.)

Annette hatte, während der Pastor dies mit stürmischer Leidenschaftlichkeit hervorgestoßen, sich erhoben und ihn starr angeblickt.

„Mein Vater!“ rief sie jetzt aus. „Mein Vater! Und als er mich mit sich schleppte, bis an den Fluß, und ich dort mich weigerte, ihm weiter zu folgen, und ich Hülfeschreie ausstieß und er mich aus Angst vor den Fährleuten freiließ, da hat er mich bedroht, mich tödten zu wollen, wie er meine Mutter getödtet habe, wenn ich ihn verrathe … mein Vater will mich tödten, und dieser Mensch da will Dich unglücklich machen, weil ich mich in Deinen Schutz geflüchtet habe, Heinrich … o mein Gott, wenn doch nur ein Blitz käme und unserem unglückseligen Leben ein Ende machte!“

„Verzweifle nicht, Annette, frevle nicht,“ sagte jetzt stark und gefaßt der junge Geistliche, indem er auf sie zutrat und ihre Hand ergriff „Ermanne Dich, die Reden dieses Mannes sollen uns nicht hindern, unsere Pflicht zu thun – steh’ auf und komm! Mag er uns verleumden, mag er aufbieten wider uns, was er kann – unglücklich sind wir einmal doch, und das Einzige, was wir uns retten können, ist das Bewußtsein, muthig das Rechte gethan zu haben. Mögen die Menschen mir nachsagen, ich hätte Dich geliebt, mögen sie mich ausstoßen und mich ächten – vielleicht bleibt ein stiller Fleck, ein entlegener Winkel auf Erden uns frei, wo wir uns bergen können vor jeder Verfolgung …“

„Heuchler,“ fuhr jetzt außer sich der Pastor dazwischen, „er spricht von einem entlegenen Winkel, von Fliehen und Verbergen – und weiß doch, daß er die Hand der Erbin von Maurach fest in der seinen hält, daß er sie an sich gekettet hat für immer durch das unzerreißbare Band der Sünde – Heuchler, der Du bist, geh’ und wage auch dem zu trotzen, daß ich’s in die Welt hinausschreie, wie Du still das Mädchen umgarnt, schon seit Wochen, Monaten umstrickt hast, weil Du von mir erfahren, sie sei die rechte Erbin von Maurach!“

Der junge Geistliche ließ die Hand Annettens fahren. Er stand bleich, wie gelähmt, wie vollständig besiegt von dieser letzten Waffe des Gegners! Aber Annette, die sich jetzt ganz erhoben hatte, erfaßte, den Pastor groß und wie verwundert ansehend, seinen Arm.

„Woran erinnert mich dieser Mensch!“ rief sie aus. „Ich bin die Herrin, die Erbin von Maurach! Ist das nicht genug, um alle die Schande abzukaufen, womit er droht? Nicht genug, um über jeden Abgrund, der zwischen mir und Dir liegen kann, eine silberne Brücke zu schlagen? Komm, schaff’ uns freie Bahn vor diesem Manne – schütze mich vor ihm, ich werde Dich vor der Welt schützen!“

Sie ging festen Schrittes. Der junge Geistliche blieb einen Augenblick stehen, wie um zu sehen, ob der Pastor versuchen werde, sich ihnen zu widersetzen. Dieser wagte es nicht, und Jener eilte Annetten nach, während der Pastor mit einem Fluche auf die Bank, die Annette verlassen hatte, zurücksank.




17.

Die höheren Gerichtsbeamten, welche der Richter von Maurach erwartete, um ihnen die weitere Aufgabe der Untersuchung zu überlassen, waren bis jetzt nicht angekommen; er hatte sich zum Grafen in dessen Schlafzimmer begeben und ihn aufgefordert, das gerichtliche Protokoll zu unterschreiben. Der Graf hatte sich dessen entschieden geweigert. Ein kurzer Wortstreit war darüber entstanden. Gereizt hatte dann der Richter angeordnet, daß sein Gefangener in einem andern sicherern Gemache bewacht werden solle; er könne, hatte der Beamte fallen lassen, aus dem Fenster des im ersten Stocke liegenden Schlafzimmers entspringen. Der Graf hatte ihm nichts als ein verächtliches Achselzucken erwidert; der Richter hatte mit Melusine zu sprechen verlangt; da sie sich als Herrin und Gebieterin betrug, war es auch ihre Sache, ein Haftlocal anzuweisen und für die Bewachung sorgen zu lassen. Sie kam – sie begab sich, ehe sie dem Beamten antwortete, noch einmal in Graf Ulrich’s Zimmer. Er saß am Fenster jetzt; das Haupt auf den Arm gestützt, blickte er in’s Freie hinaus, ruhig und gedankenvoll, wie es schien.

„Mißdeuten Sie nicht,“ sagte sie eintretend und sorglich die Thür hinter sich zuziehend, „mißdeuten Sie nicht, daß ich noch einmal zu Ihnen zu reden komme.“

Er sah, das Gesicht zu ihr emporhebend, sie fragend und ohne zu antworten an.

„Ich will eben nicht vergessen,“ fuhr sie fort, „daß mein Vater und ich Ihnen Dank schulden. Sie haben uns gastlich bei sich aufgenommen. Sie haben uns mit großem und warmem Eifer die Mittel zugesagt, welche mein Vater von Ihnen verlangte, um seine Absicht in Frankreich erreichen zu können. Sie haben uns aufgenommen – freilich ein wenig, wie man eben arme Verwandte aufnimmt,“ fügte sie mit erwachender Bitterkeit hinzu, „aber das hat uns nichtsdestoweniger Ihnen gegenüber eine große Verpflichtung auferlegt. Ich komme noch einmal zu Ihnen, um diese Verpflichtung abzutragen.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 569. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_569.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)