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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

No. 38. 1870.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.


Aus eigener Kraft.[1]
Von W. v. Hillern geb. Birch.
(Fortsetzung.)
23. Annäherungen.

Frau Hösli saß still und sinnend in ihrem Rollstuhl, an den sie für immer gefesselt blieb, denn wenn sie auch geistig ihre volle Kraft und Rüstigkeit wiedergewonnen hatte, körperlich blieb sie gelähmt. Sie glich einer jener alt-ägyptischen Gottheiten die nur ruhend, ohne Arme und Beine, halb Mensch, halb Säule gedacht wurden und dennoch mächtig und segensreich über ihrem Volke walteten. So wirkte Frau Hösli in ihrem gefesselten Zustande wohlthätig fördernd und leitend auf ihre ganze Umgebung, und Alle flüchteten zu ihr wie zur Gottheit des Hauses, um ihre Befehle, ihren Rath und Trost einzuholen.

Da kam Anna von dem Spaziergange mit Alfred zurück und kaum war sie in’s Zimmer getreten, so rief sie auch schon: „Mutter denk’ einmal, der Fredy hat gesagt, er wolle mich heirathen!“

Frau Hösli sah erstaunt aus. „Nun, da würde mir Niemand leid thun als der arme Alfred! Wie kommt er auf den Einfall?“

„Ja, das weiß ich nicht. Der langweilige Junge, gerade mich zu wollen!“

„Erzähle, wie kam’s?“ sagte Frau Hösli, und Anna erzählte getreulich, denn sie hatte kein Geheimniß vor ihrer Mutter.

Frau Hösli lächelte. „Nun, Ihr seid ja Beide noch so jung, daß von einer unheilbaren Liebe da wohl nicht die Rede ist. Glaube nur, Anna, ich wäre glücklich, wenn ich eine Tochter hätte, die für Alfred paßte, denn ich liebe den Jungen wie einen Sohn. Wenn er aber sein Herz an Dich hinge, würde ich ihn bedauern, denn Du würdest ihn nur unglücklich machen. Du brauchst einen Mann, den Du fürchtest; der arme Alfred wäre Dir nicht gewachsen. Das hast Du auch wohl damit sagen wollen, als Du äußertest, Du seist zu groß für ihn.“

„Du hast Recht, Mutter. Ich muß einem Mann haben, der größer ist als ich, in jeder Hinsicht, den ich bewundern kann, sonst mag ich ihm nicht gehorchen. Aber darum nehm’ ich auch Keinen von Allen hier, denn sag’ selbst, Mutter, ist Einer darunter, an dem etwas zu bewundern wäre? Nicht ein Einziger! Und wenn ich keinen solchen finde, dann heirathe ich lieber gar nicht.“

„Du sprichst sehr stolz,“ meinte Frau Hösli. „Ich kann Dich nicht darum tadeln; es ist amerikanisches Blut in Dir wie in Deinem seligen Bruder. Gott gebe, daß es nicht zwischen Dir und Deinem Vater zu so harten Conflicten führe wie zwischen ihm und unserem unglücklichen Heiri!“

„O Mutter, Du sagst ja oft, der Vater sei gegen mich in demselben Maße schwach, als er gegen Heiri streng war. Ich weiß schon, den Vater wickle ich um den Finger!“

Frau Hösli seufzte: „Ja, und es ist nicht gut für Dich, denn Du wirst es mit Deinem Manne einst ebenso machen wollen. Mit Einem, der sich’s nicht gefallen läßt, wirst Du beständig in Unfrieden leben, und Einer, der es sich gefallen läßt, wird Dir sehr bald zuwider sein. Du bist ein verzogenes Kind und wirst nie lernen, Dich unterzuordnen. Wehe dem armen Alfred, wenn er Dich bekäme! Du hättest es gut bei ihm, – er aber hätte es schlecht bei Dir! So lange ich lebte, ginge es noch, ich würde ihm schon beistehen; wenn ich aber stürbe, wäre er Dir gegenüber ganz hülflos!“

„Eine hübsche Geschichte,“ lachte Anna, „wenn die Schwiegermama dem Schwiegersohne gegen die Tochter beistehen müßte! Das wäre wohl etwas ganz Neues. Nein, Gott bewahre mich vor solch einem Manne, der immer, wenn die Frau unartig wäre, drohen müßte: ‚ich sag’s Deiner Mutter,‘ und wenn das nichts hülfe, zur guten Mama liefe – go hüle: ‚Muetti, ’s Anna isch wieder nit brav gsi, chumm au mit der Ruethe und gieb’m Schläg’!‘ O, ich könnte mich todtlachen, – o sweet mother, sei nicht böse, aber wenn Du mir den Fredy noch gründlicher hättest verleiden wollen, Du hättest es nicht besser machen können!“ Und sie lachte und küßte und küßte und lachte.

Die Mutter mußte diesen Ausbruch von wildem Humor und Zärtlichkeit über sich ergehen lassen; sie konnte dem unbändigen Geschöpf nicht zürnen, denn sie wußte ja, sein Herz war gut. Der herbe Tropfen amerikanischen Uebermuthes darin brachte gerade die richtige Mischung hervor und schützte das heißblütige Naturell vor jeder Sentimentalität, die Frau Hösli so haßte.

„Das sage ich Dir, Anna,“ sprach sie jedoch streng, „kränke mir nur den Alfred nicht, denn er verdient es nicht um uns, daß der erste Schmerz dieser Art durch uns über ihn käme. Behandle die ganze Sache als einen Scherz, wenn er wieder davon anfängt, was ich jedoch nach seinem Versprechen nicht glaube; denn Alfred ist ein Mensch, der Wort hält. Sei unbefangen und freundlich

  1. Nach langer, weder durch die geehrte Verfasserin, noch durch die Redaction verschuldeter Unterbrechung nehmen wir heute den Abdruck des Romans „Aus eigener Kraft“ wieder auf und freuen uns, damit endlich den so vielfach ausgesprochenen Wunsch um Fortsetzung der geistvollen Erzählung erfüllen zu können.
    Die Redaction.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 609. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_609.jpg&oldid=- (Version vom 5.2.2019)