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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

wie immer; vielleicht ist es bei ihm selbst ein Kindertraum, der sich mit der Zeit verliert. Ist es aber eine tiefere Neigung, dann muß er auf eine schonende Weise von hier entfernt werden.“ Sie schwieg und sann einen Augenblick nach. Dann sprach sie entschlossen: „Ich will mich endlich überwinden und seine Mutter besuchen. Es war ja schon lange sein Kummer, daß ich mich nicht bewegen ließ, sie zu sehen. Am Ende hat er Recht; die Frau hat so furchtbar gebüßt und lebt seit den sechs Jahren so tadellos, daß man wohl milder über sie urtheilen darf. Ich will zu ihr gehen und mit ihr reden. Sie hat nichts mehr als diesen Sohn; sie soll ihn nicht auch noch durch Herzenskummer unglücklich sehen.“

„Du willst ihr sagen, daß sie mit ihm fortzieht?“ fragte Anna plötzlich etwas kleinlaut. „Das sollte mir leid thun; ich bin doch nun einmal an den Fredy gewöhnt; ich glaube, er ginge mir ab, wenn ich ihn nicht mehr hätte!“

„Mag schon sein,“ sagte Frau Hösli trocken; „Du wärst nicht das erste Kind, das eine Freude daran hat, Schmetterlinge zu spießen.“

Anna ließ die allerliebste Unterlippe hängen wie eine reife Erdbeere. „Wenn Du gleich so gewaltthätig in meine Angelegenheiten eingreifst, werde ich Dir nie mehr etwas anvertrauen; die ganze Geschichte war nur ein Spaß und gar nicht der Mühe werth, daß man sie so ernst nimmt.“

„Das wird sich zeigen,“ erwiderte Frau Hösli. „Nun geh’ und laß das Abendessen richten!“

„Hätt’ ich das gewußt, hätt’ ich gar nichts gesagt!“ murmelte Anna vor sich hin, während sie das Zimmer verließ.

Frau Hösli sah ihr sinnend nach. „Nun, Gott wird’s lenken, wie’s gut ist. Hier liegt kein Unrecht, und wo das nicht ist, da waltet Gottes Liebe frei, denn nur das Unrecht setzt ihr Schranken.“ –

Am andern Morgen führte Alfred seine Mutter nach ihrem jetzigen Lieblingsplätzchen in dem Kastanienwäldchen, dem Schauplatze der großen Katastrophe ihres Lebens, wo ihr Gatte gefallen. Sie hatte eine schlechte Nacht gehabt und war so erschöpft, daß sie kaum gehen konnte.

„Ich danke Dir, mein Sohn!“ hauchte sie hin, während er Decken und Kissen auf die Bank legte und ihr einen weichen Schemel unter die Füße schob.

„Du guter Sohn!“ sagte sie noch hüstelnd und athemlos vom Gehen. „Ich verdiene Dich nicht; aber ich liebe Dich desto mehr!“

„Liebe Mutter,“ sprach er, „willst Du mir nicht endlich meine Bitte erfüllen?“

„Welche?“

„Dich auscultiren zu lassen! Du weißt, wie es die Aerzte wünschen, welche Beruhigung es für mich wäre; Du schlägst mir doch sonst keine Bitte ab, warum nur diese eine?“

Adelheid schwieg.

„Mutter, ich flehe Dich an! Es darf mit dem Husten so nicht fortgehen, wir müssen etwas Ermsthaftes thun.“

Adelheid schüttelte lächelnd den Kopf „Nein, nein, Kind, das sind lauter übertriebene Besorgnisse. Ich versichere Dich, mir fehlt nichts auf der Brust, und kein Mensch wird mich bewegen, dieses stille verborgene Asyl mit irgend einem vielbesuchten Curort zu vertauschen. Quäle mich nicht mehr, mein Kind; ich werde Dir Deinen Willen immer thun, wo es sich um Dich handelt; aber hierin handelt es sich nur um mich, denn meine Lunge ist doch mein unbestreitbares Eigenthum, die geht Niemanden etwas an als mich, und ich werde Niemandem gestatten, sich um sie zu bekümmern. Wenn Ihr mich also nicht bindet, um mich meuchlings zu auscultiren, so werdet Ihr nie dahin gelangen.“

„Du täuschest mich nicht mit diesem Humor, Mutter; ich weiß doch, daß er gemacht ist. Ich kann mich aus meiner Kindheit, wo Du noch glücklich, nicht erinnern, Dich je scherzen gehört zu haben; wie solltest Du es jetzt können in Deinem Unglück?“

„O mein Sohn, glaube mir, ich bin jetzt glücklicher als damals,“ sagte Adelheid, und ihre Augen schweiften geisterhaft über den See hin. „Keiner ahnt es, welch stille Freuden mir in der Seele aufgingen, seit ich lernte, in mich selbst einzukehren. Sieh, da fand ich Alles wieder, was ich besessen, ohne es zu wissen oder zu würdigen: meinen Sohn und meinen Gott! und noch Eins – ja, das darf ich Dir sagen, Du bist alt und edel genug, um es zu verstehen: eine große Liebe, werth daran zu sterben!“

„Mutter!“ rief Alfred. „Eine Liebe zu dem Schurken, der –“

Adelheid lächelte. „Nein, was könnte mir dieser Armselige sein, der nur vom Staube dieser Erde ist? Der, den ich liebe, ist für mich kein Mensch von dieser Welt, und ich darf ihm erst gehören, wenn ich das Zeitliche von mir abgethan, denn ein irdisches Weib, und noch dazu ein schuldbeladenes, ist nicht für ihn.“

Alfred blickte sie staunend an, eine Ahnung dämmerte in ihm. „Mutter – versteh’ ich Dich?“ fragte er leise.

„Gewiß!“ flüsterte Adelheid, „denn es giebt nur Einen, auf den meine Schilderung paßt, nur Einen. Und Du liebst ihn gleich mir als den größten, besten aller Menschen, und Du wirst ihm nicht zürnen, daß Deine Mutter um ihn sich verzehrt, und Du wirst es nun begreifen, daß ich mich sehne, der entweihten verhaßten Hülle ledig zu werden, die mich von ihm trennt, dem reinen Manne. Was ist das Sterben für mich? Verklärung – Verklärung in seinem Lichte!“

„Arme Mutter!“ rief Alfred auf’s Tiefste erschüttert und sank ihr zu Füßen. „Arme Mutter!“

„Nein, Alfred, wer solch eine Liebe im Herzen trägt, der ist nicht arm! Ach, es war meine Bestimmung, zu lieben und in der Liebe aufzugehen! All’ mein Irren und Fühlen, es war nur ein Suchen und Sehnen nach dieser Bestimmung. Und ich habe sie doch noch erreicht – habe den Mann gefunden, für den ich leben und sterben möchte, und da ich nicht mehr für ihn leben darf – so ist es doch Seligkeit, für ihn zu sterben. O nein – ich bin nicht arm!“

„O, jetzt begreif’ ich Alles!“ sprach Alfred und drückte seine Lippen auf ihre weiße durchsichtige Hand. „O Mutter, wie beklage ich Dich!“

„Ja, Alfred, Du hast Recht und es mag wohl schade sein um so viel Liebe! Wie glücklich hätte ich machen können, wie glücklich sein!“ Eine Thräne perlte ihr in den großen Augen, aber sie lächelte dabei und lehnte das Haupt auf den schönen Kopf des Sohnes.

Es säuselte geheimnißvoll in den Kronen der alten Bäume, und leise wallte ein Regen weißer und rother Kastanienblüthen nieder. Ein Hauch der Versöhnung zog durch die ganze Natur und umwogte mit seliger Verheißung die büßende Frau. Die Millionen strahlender Augen, mit denen der See sie anschaute, sprachen es, und die süß zwitschernden Vogelstimmen sangen es, und das Herz ihres Sohnes jubelte es ihr zu: „Du bist entsühnt!“ Entsühnt! O großes Wort, das der geängstigten Seele die Pforten des Himmels öffnet, Wort der Erlösung – wo du gesprochen wirst, ist eine große That geschehen, eine jener stillen Thaten, die kein Griffel verzeichnet und in denen doch das Wesen seiner göttlichen Bestimmung näher gerückt wird.

Wie viel Zeit über die Beiden hingezogen sein mochte, sie wußten es selbst nicht, da gemahnte ein Hustenanfall die arme Frau daran, daß sie noch der Erde angehöre, daß sie noch eine lange schwere Leidenszeit vor sich habe, bevor sie an dem ersehnten Ziele war!

„Mein Sohn,“ sagte sie, „daß ich so mit Dir reden darf! Weißt Du, welch ein Glück das für mich ist? Ich habe Dir mein Herz geöffnet wie einem Freunde, und Du – Du hast mich verstanden und mir vergeben. Wohl mir!“

„Mutter, ich habe Dir längst vergeben und mich erfaßt ein unsäglicher Schmerz um Dich. Ich glaube nicht mehr das Andenken meines Vaters zu beleidigen, wenn ich Dich zu entschuldigen versuche. Er selbst lehrte mich ja in seinem Abschiedsbriefe – zu verzeihen, und ich habe einsehen gelernt, daß mein armer Vater nur eine dringende Pflicht zu erfüllen glaubte, da er sich noch einmal vermählte; denn der Name ist in unserem Stande wie die heilige Flamme auf dem Altare der Vesta, die von Generation zu Generation unentweiht forterhalten werden muß, und jeder Sproß einer edeln Familie betrachtet sich nur als den Priester, dessen Amt es ist, die heilige Flamme zu hüten und vor dem Erlöschen zu bewahren. Ein schöner, ein erhabener Gedanke. Wer wird den tadeln, der gefehlt, weil ihm ‚Heiliges heilig gegolten‘? Wer wird nicht mit stiller Ehrfurcht vor dem Altar stehen, den ein Volk in grauer Vergangenheit im Schweiß seines Angesichts irgend einem Irrthum erbaut und mit seinem Blute vertheidigt? Und dennoch, Mutter, ich fühle den unerbittlichen Ruf an mich ergehen, zu zerstören, woran ich selbst mit kindlicher Pietät hänge. Ich will

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 610. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_610.jpg&oldid=- (Version vom 5.2.2019)