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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

ritt ein Cavallerie-Officier vorbei. Mit Aufbietung der letzten Kräfte rief ich ihm zu. Er hielt. Ich bat um Krankenträger für mich und die Cameraden. Nach einer langen Viertelstunde kamen welche an und trugen uns auf Bahren davon: Ich war Badensern in die Hände gerathen und kam im Finstern auf ihren Verbandplatz. Die Sachen wurden mir vom Leibe geschnitten, ein guter Verband angelegt. Nackend wickelte man mich in wollene Decken, gab mir heißen Kaffee und Wein zu trinken, und eine behagliche Wärme durchströmte mich. Es war ein seliges Gefühl. Eine schlaflose Nacht, beengter Athem, wenig Schmerz, aber außer Stande, mich zu bewegen. Nur der rechte Arm und das linke Bein brauchbar. Ich lag auf der Trage in einem Zelte mit drei Sterbenden zusammen. Die ganze Nacht nichts als Stöhnen und Fieberphantasien in meiner Umgebung. Am Morgen stand zehn Schritte vom Zelte der Amputationstisch, und ich sah diese Fleischerarbeit ziemlich gleichgültig mit an. Meine Zeltgesellschaft (Officiere) war todt. Der Arzt schien erstaunt zu sein, daß ich lebte und nicht einmal fieberte. Gegen Mittag band man mir das Diagnosetäfelchen um mit Nummer Eins, das heißt: nichttransportabel bei Lebensgefahr. Eine ermuthigende Nachricht! Ich wurde gegen Abend nach dem eine halbe Stunde entfernten Gunstett gebracht, wo ich mich noch befinde. Wie entsetzlich sah es aber damals aus! Ich lag einen Tag und zwei Nächte auf einem Bund Stroh auf der Erde. Niemand fragte nach mir und meinen Stubengenossen. Ein Stück Brod und etwas Wasser mit Wein gemischt stand neben uns. Ich merkte bald, daß die Aerzte sich um uns, als sichere „Todescandidaten“, nicht mehr kümmerten. Da trat plötzlich der Kronprinz von Baden, Ludwig Wilhelm August, preußischer General und Inhaber des vierten Infanterieregiments, in unser Zimmer. Er war wüthend gegen solche Rücksichtslosigkeit. Er soll gegen die Aerzte ziemlich deutlich geworden sein. Alsbald erschienen vier Mann, hoben mich auf und trugen mich in eine kleine Kammer, wo ich auf ein Bett und Strohsack niedergelegt wurde. Ich dankte Gott! Durch jenes erste Zimmer liefen Tag und Nacht Lazarethgehülfen und Diener; es pfiff der Wind durch die offenen Fenster und Thüren, der Regen peitschte herein, die Dielen zitterten unter den schweren Tritten; bisweilen wurde ich gestoßen und getreten. Die entsetzlichsten Stunden meines Lebens habe ich dort zugebracht. Morphium betäubte mich nur in der ersten Nacht. Später nahm ich die stärkeren Dosen freiwillig nicht mehr an.

Am vierten Tage nach der Schlacht wurde zum ersten Male der Verband gewechselt. Die Lappen verbreiteten bereits einen höchst unangenehmen Geruch. Ich war aber jetzt allein und hatte Ruhe. Nichts geht über das Erstaunen der Aerzte, als sie wiederholt meinen Puls fühlten, die Wunden besahen, den Blutauswurf betrachteten. Mein Puls war so ruhig, wie nur je im gesunden Zustande. Ich verlangte zu essen und verschlang mit Gier rohen Schinken und Brod. Am sechsten Tage erhielt ich mein jetziges, sehr hübsch möblirtes freundliches Zimmer, die Studirstube des Pfarrers. Ich war der älteste unter den sieben Officieren hier. Wir waren alle bis auf einen in die Brust geschossen; es leben aber nur noch drei. Jetzt geht es mir täglich besser; der Appetit ist ausgezeichnet. Wie komm’ ich zu solcher Bärennatur? Mehrere Johanniter aus Baden haben mich wie ein Wunderthier betrachtet, wenn ich mein Essen bekam. Man behandelt mich nun sehr aufmerksam. Die Aerzte scheinen sich für mich als ein Problem zu interessiren. Doctor Pagenstecher, der Assistent des berühmten Chirurgen Simon in Heidelberg, behandelt mich. Eigentlich thun sie gar nichts. Jeden Morgen erhalte ich einen frischen Verband und dann überlassen sie mich meiner Natur und meinem Bette. In der Brusthöhle befindet sich immer noch etwas Exsudat. Ich bin in einer Beziehung ganz hülflos. Ich besitze nur meinen Degen, Helm und mein Lorgnon: sonst bin ich nackend. Ich werde mir Civil erbetteln, um transportirt werden zu können.

Noch kein Mensch hat hier binnen vierzehn Tagen einen Brief erhalten.

Ich will hiermit schließen. Das Schreiben im Bette strengt doch an. Ich bin bereits seit vorigem Montage im Stande, mich allein aufzurichten; liegen kann ich aber nur auf dem Rücken. Heute stehe ich wieder anderthalbe Stunde auf und sitze im Sessel. Es ist eine große Wohlthat für meinen armen Rücken. Ich wanke schon allein die vier Schritte vom Bett bis zum Stuhl und wieder zurück. Nun lebt wohl! Herzliche Grüße an Alle.

Dein aufrichtiger Sohn
Philipp. 

Ruhestätte des Dichters der ‚Wacht um Rhein‘ in Burgdorf.
Nach der Natur aufgenommen von J. Nieriber.

Der dritte September in Berlin. Es ist etwas Großes und Erhabenes, wenn ein Hauch der Begeisterung durch ein ganzes Volk hinzieht und Millionen und Millionen Herzen zu gleicher Zeit rascher schlagen läßt, wenn die Freude und Begeisterung aus jedem Auge leuchtet, wenn auch nicht ein Einziger ist, der nicht daran Theil nimmt.

Ein solcher großer Tag war der dritte September, als die Kunde von der Uebergabe der Festung Sedan mit mehr als achtzigtausend Truppen und die Gefangennahme des Kaisers Napoleon durch ganz Deutschland, ja durch ganz Europa zuckte, und der Telegraph sie nach allen Welttheilen trug. Man wußte, daß es kein Land dieser Erde gab, in welchem diese Kunde nicht bei allen dort lebenden Deutschen die größte Freude hervorrief. Ganz Deutschland jubelte, Hunderttausende deutscher Fahnen flatterten an diesem Tage lustig im Winde und „Napoleon gefangen, ein Heer von achtzigtausend Mann ergeben!“ tönte es überall.

Den gewaltigsten Eindruck rief diese freudige Botschaft, welche von Niemand erwartet war, in Berlin hervor. Morgens um fünf Uhr hatte die Königin das Telegramm des Königs erhalten, und der Polizeipräsident hatte die Depesche sofort drucken und an die öffentlichen Säulen heften lassen, allein Berlin war kaum aus dem Schlafe erwacht, die Straßen waren noch wenig belebt, die große Nachricht verbreitete sich deshalb anfangs langsam, bis sie mit einem Male gegen neun Uhr Morgens durch Depeschen welche auf der Straße verkauft wurden, wie ein lauter, mächtiger Wiederhall die ganze Stadt durchdrang. Der Eine rief es dem Anderen zu, bis es auf jeder Straße, in jedem Hause tönte: „Er ist gefangen! Wir haben Ihn!“

Ganz Berlin war mit einem Male in der freudigsten, begeistertsten Stimmung. Die Fahnen und Flaggen wehten aus den Fenstern, von den Balconen und den Dächern herab. Unbekannte drückten einander die Hand und sprachen kein Wort weiter, als: „Wir haben ihn.“ Ich habe ernste, bejahrte Männer gesehen, denen die Thränen der Freude über die Wangen liefen, und sie hatten sich dieser Thränen nicht zu schämen; manches Mannesauge ist an diesem Tage feucht geworden.

Alle eilten unter die Linden, Tausende wogten dort auf und ab und Tausende schaarten sich vor dem königlichen Palais, wo die Königin wiederholt auf dem Balcon erschien und die Versammelten freudig und bewegt begrüßte. Das Denkmal Friedrich des Großen, welches gerade vor dem

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 625. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_625.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)