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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

und reckt seine Spitze hinauf in die Wolken. Der Pilatus ist der Freund dieser Luftgebilde. Der erste, der sich bei schlechtem Wetter in Nebel mummt, trägt er beim schönsten Wetter seinen Hut, wie eben jetzt. Wie manche schöne Sage knüpft sich an diesen stolzen, majestätischen Bergriesen; schon seinen Namen dankt er einer solchen. Der römische Landpfleger Pilatus, der Jesus dem Volke ausgeliefert, soll sich auf diesem Berge in einen See gestürzt haben aus Verzweiflung über seine Schwäche und noch jetzt muß er bei Donner und Blitz aus der Tiefe tauchen, ein Schreckenbild. – Von diesem Manne soll der Berg seinen Namen haben.

So blickt man hinaus in die herrliche Landschaft und kann nicht satt werden. Ich weiß nicht, wie lange ich gestanden habe, als mich plötzlich der Pfiff einer Locomotive emporschreckte.

Der Bahnzug kommt von oben herab; da ist aber keiner Gefahr auszuweichen; er läuft nicht schneller, als ein Pferd trabt, und dies ist seine gewöhnliche Geschwindigkeit. Er kommt immer näher und näher. Plötzlich, mit einem Ruck hält er an; ein Mann springt vom Wagen auf mich zu; es ist der Bauführer, mein Studienfreund. Er hatte mich erkannt, und da weiter keine Passagiere da waren, ließ er anhalten, und nun bot sich die beste Gelegenheit zur Besichtigung der Locomotive sowohl wie des Waggons.

Einen sonderbaren Eindruck macht die Locomotive mit ihrem aufrechtstehenden Kessel, der in dieser Weise angebracht werden mußte, um den Spiegel des Wassers überall in gleicher Höhe zu halten, was bei einem wagrecht stehenden Kessel nicht möglich wäre. Um dies noch besser zu erreichen, ist der Kessel so gebaut, daß er bei der Steigung der Linie senkrecht steht, auf ebenem Boden folglich schief rückwärts.

An die Stelle des Schwungrades treten mit einer Uebersetzung die beiden Kammräder, welche in die Zahnstange eingreifen. Die Furcht, daß bei Ausbrechen eines Zahnes ein Unglück entstehen könnte, ist völlig unbegründet, denn es treten beinahe zu gleicher Zeit deren drei in die Stange, so daß bei vorkommendem Falle das ganze Unglück höchstens in einem unbedeutenden Rucke bestehen könnte. Zu dem kommt als wesentlich hinzu die vortreffliche Bremsvorrichtung, mittelst welcher der Zug sofort angehalten werden kann. Es mag hier am Platze sein, alle anderen Maßnahmen für die Sicherheit des Fahrens anzuführen, um jedes Vorurtheil und mit ihm jede Furcht zu beseitigen.

Die angeführte Bremsvorrichtung, Hebelsystem, ist nicht nur bei der Locomotive, sondern auch bei jedem einzelnen Wagen angebracht, und da die Waggons nie zusammengekoppelt sind, kann also jeder einzelne Waggon leicht angehalten werden, was von besonderer Wichtigkeit beim Hinunterfahren ist. Beim Hinauffahren ist die Locomotive stets hinten, so daß die Wagen nicht gezogen, sondern geschoben werden, eine Anordnung, die von der großen Umsicht zeugt, mit der hier zu Werke gegangen wurde. Mein Freund erklärte mir, daß in der langen Zeit, in welcher die Bahn schon gebraucht worden, auch nicht der geringste Unfall vorgekommen sei, und der einzig denkbare wäre, daß ein Felsstück herabrollte oder sich ein kleinerer Stein in die Linie wälzte, der den Uebersetzungsrädern des Schwungrades Schaden zufügen könnte. Aber abgesehen davon, daß die Bahn während des Betriebes fleißig inspicirt wird, kann dergleichen bei einiger Aufmerksamkeit des Locomotivpersonals wirklich nicht vorkommen, da der Zug sich stets in der Gewalt des letztern befindet und rasch genug still gehalten werden kann, das Hinderniß zu beseitigen oder die Gefahr vorübergehen zu lassen.

Die Waggons, welche, um auf der Linie wagrecht mit ihren Sitzen zu stehen, über den Rädern eine keilförmige Unterlage haben, sind ebenfalls abweichend von denjenigen anderer Bahnen; es sind Omnibusse mit je einundachtzig Plätzen, fünfundvierzig im ersten und sechsunddreißig im zweiten Stocke. Die letzteren werden wahrscheinlich bei schönem Wetter und von keckeren Touristen benutzt werden, da sie ohne Verdeck und eben deswegen ein allerliebster Luginsland sind; das muß ein köstlicher Genuß sein, so hinauf oder hinunter zu fahren. Trotz der Einladung meines Freundes aber versagte ich mir denselben, da ich noch weiter die Bahnstrecke hinauf wandern wollte.

„Wir treffen uns wieder,“ rief er mir nach; der Zug rollte bergab und ich setzte meinen Stock ein bergauf.

Ich hatte wenig über fünfzig Schritte zurückgelegt, als die Bahn eine scharfe Biegung machte; links dunkle, bewaldete Abgründe, rechts groteske Gebirgswelt, vor mir der etwa hundertfünfzig Fuß lange Tunnel durch einen gewaltigen Nagelfluhfelsen. Wie man aus dem Tunnel heraustritt, schießt der Felsen beinahe senkrecht ab und fällt bis zu einer Tiefe von mindestens dreißig bis vierzig Meter. Oben steigt er allmählich himmelhoch hinauf, in glatten grauen Wänden, die schaurige Grubisfluh. Unten durch schießt schäumend ein Bach und wälzt sich brausend an dem Rande dieses gewaltigen Kessels hin, der eine Ueberbrückung erhalten hatte, wie sie von gleicher Schönheit kaum ein zweiter Viaduct aufweisen dürfte.

Auf zwei Gitterpfeilern schwingt sich die siebenundsiebenzig Meter lange Brücke über den Abgrund in einem kühnen Bogen auf das jenseitige Widerlager, um dort, rasch steigend, allmählich wieder aus der Schlangenwindung herauszukommen. Das diesseitige Widerlager ist der Felsen. Die Brücke sieht sich von Weitem etwas beängstigend an; namentlich wenn der Zug darüber geht, glaubt man jeden Augenblick, sie müsse unter der Last zusammenbrechen; aber so leicht sie auch scheint, so solid, so gut bewährt sie sich, und es ist kaum denkbar, daß der Winter von schädlichem Einflusse auf dieses Gitterwerk sein wird.

Die Aussicht von der Brücke ist überraschend schön; im Hintergrunde die himmelstürmenden Felsen, unter sich der tobende Bach, die finsteren Tannen, weiter hinab saftige Wiesen, schattige Obstbaumwälder, darüber hinaus der blitzende See, der majestätische Pilatus. Der majestätische Anblick ist um so überraschender, als der Gesichtskreis kurz vorher ein sehr beengter war.

Ich steige immer weiter auf dem Bahnkörper; oberhalb der Brücke nimmt die Steigung ab; bis zum Tunnel betrug sie nicht weniger als fünfundzwanzig Procent, jetzt ist dieselbe im Durchschnitt einundzwanzig bis zweiundzwanzig Procent. Mit der Abnahme der Steigung wird auch der Bau weniger schwierig, obschon noch hier und da eine Brücke über einer tiefen Kluft sich wölbt, oder der Linie eine Gallerie gesprengt werden mußte. Es ist das Gebiet der Alpen, welches nun beginnt, eine weiche Erdschicht tritt zu Tage und das Geröll und Gestein, von dem sich weiter unten die Hülle und Fülle bot, war hier gut zu verwenden.

Das Kaltbad ist erreicht; noch etwas darüber hinaus, bis ungefähr zur Höhe des sogenannten Staffels zieht sich die Linie fort und findet dort, wo alle Wege, die auf den noch einige hundert Fuß höheren Kulm führen, zusammentreffen, ihren Abschluß. Ein Stationsgebäude erhebt sich und der Passagier hat den ersten berühmten Aussichtspunkt des Rigi erreicht. Ich ließ mir eine Erfrischung geben, sah mich schnell um unter all’ den fremden Gesichtern, welche, die Augen im Berlepsch, die prächtige Aussicht bewunderten, und setzte dann meinen Fuß wieder rückwärts, gleichen Weges, den ich gekommen. Wie ungleich ruhiger läßt sich da die Landschaft genießen, wie wohl fühlt und hebt sich die Brust, wenn man so hineinwandert, entgegengeht all’ dem Herrlichen, das sich dem Auge darbietet! In kurzer Zeit war ich wieder bei der Brücke angelangt. Im Tunnel dampfte die Locomotive, die inzwischen wieder heraufgekeucht war; nun war es mir sehr lieb, eine Fahrt mitmachen und namentlich das so sehr gefürchtete Herabfahren wagen zu können. Ich stieg ein; die Locomotive setzte sich in Bewegung, der Waggon rollte nach; das ging so ruhig wie in einer Kalesche auf schöner Landstraße. Als ich ausstieg, brauchte ich nicht erst zu untersuchen, ob die Achseln noch da seien, eine Prüfung, die man bei unseren Eisenbahnen oft genug zu machen gezwungen ist. Die Geschwindigkeit, mit der sich die Maschine fortbewegt, ist freilich keine rasende; ein recht guter Läufer wäre im Stande mit ihr Schritt zu halten, natürlich nur bergab. Dies erhellt schon daraus, daß sie, um die etwa siebzehntausend Fuß Länge der Bahn zu durchlaufen, eine Stunde Zeit verlangt, wie wenigstens für den Fahrplan vorgesehen ist. Regelmäßige Fahrten wird die Bahn während der Saison täglich höchstens drei haben, jedoch weitere nach Bedürfniß anordnen. Daß sie auf zahlreichen Zuspruch rechnen darf, ist wohl sicher, und sie hat es auch nöthig, denn die Kosten ihrer Herstellung erreichen die schöne Summe von 1,250,000 Francs.

Daß die Bahn dem Berge als solchem die Poesie raube, ist eine Behauptung, die jeden Haltes entbehrt; es wird weder das Eine noch das Andere, das bisher charakteristisch für den Rigi war, dadurch verdrängt werden; jedenfalls dürfte sie nur ein Mittel sein, ein noch geschäftigeres Durcheinander zu veranlassen. So werden die Schwarzseher bald verstummen müssen und man wird dem Unternehmen ein herzliches „Glück auf!“ zurufen.



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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 659. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_659.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)