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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)


richtete er sich aber in seiner vollen imponirenden Größe auf und wollte, ein eigenthümliches Gewinsel ausstoßend, Koltoff umarmen.

Die Fürstin erschrak und schrie auf, sie hielt ihren Anbeter für verloren.

Der Bär hatte indeß durchaus nichts Uebles im Sinn, der Geruch des Honigs, den Koltoff bei sich führte, hatte ihn aus seiner süßen Ruhe geweckt, und als er sich aufrichtend seinen Freund erkannte, versuchte er nach echt täppischer Bärenart denselben zu liebkosen. Koltoff schob ihm rasch eine große Honigscheibe in den Rachen, worauf sich der Bär artig niedersetzte und die Augen wie ein echtes Leckermaul schließend zu naschen begann.

Nun war der Augenblick da, das kühne Wagniß auszuführen. Koltoff besann sich nicht lange, sondern nahm den zottigen Kumpan frisch in die Arbeit, er kämmte ihm, so gut es ging, mit Hülfe der Pomade das Kopfhaar zu einem Toupet zusammen und beeilte sich, so oft das Thier ungeduldig zu werden schien und ihm darüber brummend seine Bemerkungen machte, demselben eine neue süße, duftende Honigscheibe zuzuwerfen. In wenig Augenblicken war der große Kopf des Bären dicht eingepudert, schneeweiß gleich dem eines Elegant, und Koltoff zog sich rasch auf den Fußspitzen zurück. Als sich die Thür des Zwingers hinter ihm schloß, atmete er auf. Das gefährliche Abenteuer war überstanden.

Lubina überhäufte ihn mit schwärmerischen Lobeserhebungen, ihr Herz schien bezwungen, aber zur größten Ueberraschung des armen Lieutenants gab sie ihm noch denselben Abend eine neue Prüfung auf.

„Sie haben mir einen so großen bewunderungswürdigen Beweis von Ihrer Kaltblütigkeit und Ihrem Muthe gegeben,“ sagte sie, „daß es Ihnen gewiß selbst erwünscht sein wird, mir nun auch eine Probe von Ihrem Geiste und Ihren Kenntnissen zu geben.“

Koltoff erschrak, er fand keine Worte und verneigte sich nur stumm.

„Ich werde Ihnen eine Ihrer würdige Aufgabe stellen,“ fuhr die gelehrte Amazone fort. „Schreiben Sie ein Werk unter dem Titel ,Der Mensch und die Natur', weisen Sie in demselben alle Beziehungen nach, welche zwischen Beiden bestehen, zeigen Sie, inwieweit der Mensch von seiner großen Mutter abhängig ist, abhängig bleiben muß, worin er sich von ihr befreien, so sogar über sie stellen und auf sie einen Einfluß gewinnen kann. Aber ich vergesse, daß Sie ja selbst es sind, welcher uns über diese Materie ganz neue, ungeahnte Perspectiven eröffnen wird.“

Koltoff hatte sich noch nie so unglücklich gefühlt, nie in seinem Leben, nicht einmal in jener Nacht, wo er sich erschießen wollte, als heute, wo er die schöne Fürstin Mentschikoff als zukünftiger Verfasser des Buches „Der Mensch und die Natur“ verließ. Wo sollte er die Ideen, wo die Kenntnisse, ja wo nur das leere Papier zu diesem verwünschten Werke hernehmen? Er ließ sich den ganzen folgenden Tag im Palaste Mentschikoff nicht sehen, sondern irrte trübselig in den Straßen umher, sah auf der Wache dem Kartenspiel der Cameraden zu, und schlich endlich zu seiner Tanzstunde, und überall war es ihm, als ob ihn eine Stimme verfolgte und ihm in das Ohr raune: „Der Mensch und die Natur!“ und wie er bei der Menuette in der dritten Position stehend den ersten Geigenstrich seines Tanzmeisters Monsieur Perdrix erwartete, entfuhren ihm unwillkürlich die unseligen Worte: „Der Mensch und die Natur!“

Der kleine Franzose, welcher eben den Bogen erhoben hatte, setzte ab und sah den Lieutenant erstaunt an.

„Der Mensch und die Natur,“ wiederholte er, „was haben Sie damit?“

„Bemitleiden Sie mich,“ erwiderte Koltoff, „ich soll ein Buch schreiben über diesen Gegenstand, ein philosophisches Werk in der Art der französischen Encyclopädisten, und habe keinen Dunst davon.“

„Nun, so lassen Sie es bleiben,“ meinte der Franzose.

„Aber es hängt mein Lebensglück, ja, vielleicht mein Leben von diesem unseligen Buche ab!“ rief Koltoff.

„Ihr Leben?“ entgegnete der Tanzmeister lächelnd.

„Ich schwöre es Ihnen, mein Leben,“ rief der Russe, und dabei sah er so verzweifelt aus, daß der kleine Franzose dadurch überzeugt wurde, und mit ihm auf Rettung zu sinnen begann.

Als Koltoff ihn zum Vertrauten gemacht und in alle Umstände eingeweiht hatte, machte der kleine Franzose plötzlich einen Luftsprung und begann dann, seine alte verstimmte Geige mörderisch mit dem Bogen bearbeitend, in der Stube herumzutanzen, und zwar alle nur denkbaren Schritte und Tacte durch einander, dann schlug er eine Pirouette und sagte, vor dem erstaunten Koltoff in einer graziösen Positur stehen bleibend:

„Ich rette Sie, ich schreibe Ihnen das Werk.“

„Wie,“ schrie Koltoff, „Sie wollen, herrlicher, goldener Monsieur Perdrix?“ Er umfaßte den kleinen Mann, hob ihn in die Luft und sprang mit ihm herum. „Nun, wie aber machen wir das?“ fagte der Lieutenant, als er Monsieur Perdrix wieder der Erde zurückgegeben hatte; „denn ich für meinen Theil will lieber täglich zwei Mal den Bären frisiren und pudern, als eine Zeile daran schreiben.“

„Wie? wie ich das mache, junger Leonidas?“ schmunzelte der alte durchtriebene Tanzmeister. „Sie bekommen das Werk, parole d’honneur, aber Sie fragen mich nie, wie ich es gemacht habe.“

Es vergingen ein paar Wochen.

Koltoff kam gegen Abend, stets nur für Augenblicke, zu der Fürstin, und war auch sonst wenig zu sehen, er gab sich ganz die Mühe, in seinen Studien vergraben zu sein.

Indeß war der Tanzmeister Monsieur Perdrix in der That in einem wahren Gebirge von Büchern vergraben, er hätte Alles, was an philosophischer und naturhistorischer Literatur in der Residenz Katharina’s der Zweiten aufzutreiben war, um sich angehäuft und schrieb, auf das Gerathewohl in die Masse hineingreifend und bald den, bald jenen Band, jetzt Aristoteles, jetzt Hippokrates, dann Voltaire, Quesnay, Baco, und wieder einmal Aristoteles amputirend – denn abschreiben oder bestehlen ist kein Wort für die mörderische literarische Schlächterei, welche der Alte unter den Philosophen anrichtete – und schrieb und las und schrieb wieder, und hatte in nicht vier Wochen ein ganz stattliches Manuscript beisammen. Allerdings gehörte davon kein Gedanke, keine Phrase, kaum eine Wendung ihm, aber er hatte mit der seinem Volke eigenthümlichen Geschicklichkeit Alles klar geordnet und – was nur in einer streng entwickelten, akademischen Sprache, wie die seine, dem Halbgebildeten möglich war – in gutem klarem, ja elegantem Französisch niedergeschrieben.

(Schluß folgt.)




Freiwillige Krankenpflege auf dem Schlachtfelde.
Von Prof. A. Pagenstecher in Heidelberg.
Schlechte Nachrichten vom Schlachtfelde. – Von der Mitwirkung des freiwilligen Sanitätswesens und seiner Unentbehrlichkeit. – Ausrüstung einer Heidelberger Hülfsmannschaft. – Ihr Zug nach dem Schlachtfelde von Gravelotte. – Grobe Abweisung durch Johanniter. – Die Sehnsucht der Verwundeten, nach Hause zu kommen. – Einiges über die markzehrende Arbeit eines Spitalarztes. – Würtembergische und baierische Einladung von Verwundeten. – Lauter Concurrenten. – Nochmals die Johanniter. – Schlußwort.

Wenn ich heute Einiges über das freiwillige Sanitätswesen berichten will, wie es sich in den jüngsten Tagen der Gefahr, des Kampfes und Sieges darstellte, so soll das nur ein Scherflein zum Nutzen der Zukunft sein, und ich weiß wohl, daß ein endliches Urtheil über Manches, was jetzt von den Einzelnen mit scharfem Für und Wider besprochen wird, nur nach den Erfahrungen Vieler zu bemessen ist.

Für die ganze heimische Thätigkeit, welche sich in dieser Beziehung fast über Nacht so kolossal zu entfalten hatte, war es von unberechenbarem Vortheile, daß durch den Frauenverein wenigstens die Grundzüge einer realen Organisation gegeben und die ersten Mittel und Kräfte geboten waren. Wie wäre es sonst selbst der wärmsten patriotischen Hingebung möglich gewesen, fast gleichzeitig mit der Mobilmachung der Armee alles Nothwendige herzustellen, über fünfzigtausend Betten, viele Tausend Pfleger und Pflegerinnen, die ungeheuersten Vorräthe für Verwundete und Kranke bereit zu halten?

Konnte man in solcher Weise sich ohne Bedenken das Zeugniß

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 672. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_672.jpg&oldid=- (Version vom 28.5.2019)