Seite:Die Gartenlaube (1870) 714.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

Adjutant des Commandanten von Belfort verkleidet, in Civil, ankommen werde, um das Land auszukundschaften, wo sich eine große Heeresmasse, um in den obern Elsaß überzuschreiten, sammelte. Jetzt war der arme Teufel gefangen. Sein Benehmen klagte ihn offenbar an. Blaß und immer blasser werdend, konnte er kaum die einfachen Fragen, die der als Polizei auftretende Lieutenant an ihn stellte, beantworten. Bald verzogen sich seine Lippen krankhaft. Es war kein Zweifel. Er besaß prachtvolle Papiere, eben in Bern ausgestellt, die ihn als Arzt bezeichneten, und als Reisezweck den Besuch der deutschen Lazarethe angaben. Der Lieutenant bat den „armen Sünder“, seine Sachen aus dem Wagen zu nehmen und ihm zu folgen, Alles mit dem feinsten Anstand. Erst dann durften alle anderen Reisenden aus- und wir einsteigen. Auf und davon flogen wir und es war mir schon im Geiste, als sähe ich den „armen Sünder“ baumeln.

„Schauerlich,“ dachte ich, „der Kerl, der ihn verrathen hat und jetzt ruhig in Basel sitzt, während dieser hier hängen muß, ist doch des Hängens eigentlich ebenso würdig oder noch mehr!“

Und dann flog ein Gedanke durch meinen Sinn: „Wolle Gott, daß er sich geirrt,“ nämlich der Küradsierlieutenant, der so fein, klug und gentlemanartig den armen Teufel heimführte, um ihn dem Galgen zu überliefern.

Der Krieg ist entsetzlich!

Das war der Prolog zu unserer Reise.

In dem Zuge war ein sehr gemischtes Publicum. Es bestand zum Theil aus gewöhnlichen Reisenden, wie sie zu allen Zeiten zusammenströmen, dann aber auch aus Reisenden, welche die große Zeit unserer Tage zusammengeführt hatte. Nicht wenige waren Officiere der sich im Markgräflerländchen zur Besetzung des Oberelsasses sammelnden Heeresabtheilung (vierte Reservedivision); zwei Wagen waren mit „heimgeschickten“ päpstlichen Zuaven besetzt, lauter deutsche Tröpfe, in Afrikaner verkleidet. Wenn sie nur ein klein wenig Menschenverstand mit nach Hause bringen, dann wird der geistliche Herr, der sie nach Rom geschickt hat, wenig Freude mehr an ihnen erleben. Der Gegensatz zwischen diesem maskirten Gesindel und der tapferen norddeutschen Landwehr an der wir vorbeifuhren war schlagend.

Ein anderer Theil der Mitreisenden waren Straßburger, durch die telegraphische Depesche, die ihnen gestern die Nachricht von der Uebergabe Straßburgs brachte, aus der Verbannung erlöst. Unsere Wagennachbarn waren zwei dieser Glücklichen, die, als sie merkten, daß wir ebenfalls mit wohlwollendem Herzen für die Elsasser und Straßburger in ihre Vaterstadt eilten, uns ihr Herz groß und weit öffneten.

Der Eine der Beiden war ein bejahrter Herr, der nach einer dornenreichen Laufbahn in praktischer Thätigkeit jetzt sich den theoretischen Studien wieder widmete; der Andere war ein junger Künstler, Beide liebevolle und geistvolle Menschen, die sehr bald sich nicht scheuten, ihren deutschen Herzen deutsch Luft zu machen. -

Ich hatte lange in Straßburg gelebt, ich war im Elsaß umhergereist, hatte das Volk nach allen Richtungen kennen gelernt und wußte, wie viel deutsches Wesen und auch Zuneigung zu Deutschland noch an Elsaß lebendig sind. So war ich nicht im Entferntesten überrascht, wohl aber freudig berührt, daß die ersten Straßburger die ich nach der Rückeroberung der Stadt durch die Deutschen sah, gute Deutsche waren. Der ältere Herr erzählte sehr viel von seinem Leben in Elsaß und Lothringen unter den „Franzosen“, klagte bitter über die französische Wirthschaft, über Napoleon und die „Pfaffen“, die gemeinsam das Volk haben verkommen lassen, über die schlechten Schulen, insbesondere über die entsetzliche Verwilderung des sonst so guten Volkes, die das Ergebniß von zwei Jahrhunderten der Mißregierung war. Er sah die Rückeroberung des Elsasses als eine wahre Erlösung des Volkes von einem überall gefühlten, aber nur selten erkannten Joche an.

„Wenn Sie heute abstimmen ließen,“ sagte der junge Künstler, „dann würde freilich die Mehrzahl im Elsaß sagen: ‚Wir wollen französisch bleiben.‘ Aber wenn der Elsaß erst wieder zehn Jahre deutsches Leben, deutsche Zucht, deutsche Sitte, deutsche Ordnung gehabt haben wird, dann können Sie ruhig abstimmen lassen, dann wird Alles mit seltener Ausnahme freudig ausrufen: ‚Wir sind und wollen Deutsche bleiben!‘“

Mein Begleiter, ein Officier, der bei Metz verwundet worden war und der dort überall Franzosenthum und Deutschenhaß im Volke beobachtet hatte, hörte ganz erstaunt zu. Mir sagte der brave Straßburger nichts Neues, meine Erlebnisse im Elsaß, meine Erlebnisse in Stadt und Dorf, meine Studien über den Elsaß hatten längst in mir die Ueberzeugung festgestellt, die jetzt unser Wagennachbar aussprach. Der Elsaß ist das verkommenste Stückchen Land, das unter Frankreichs Herrschaft steht. In der französischen Criminalstatistik ist unter neunzig Departements der Oberelsaß in der Regel das dritte, vierte, der Unterelsaß das siebente, achte. Ebenso auf der schwarz und weiß gezeichneten statistischen Karte über den Unterricht im Volke ist der Elsaß einer der dunkelsten Theile von ganz Frankreich. Nur ein paar der ärmsten, elendesten, verkommensten Departements machen hier dem Elsaß den Rang streitig. Die Elsasser sind ohne gebildete Sprache; sie verstehen, natürlich mit Ausnahmen, aber ziemlich seltenen, weder deutsch noch französisch; wenn sie auch ihre Bedürfnisse meist in beiden Sprachen geltend machen können. Aber ein höheres Wort, einen geistigen Gedanken – die wissen sie weder deutsch noch französisch richtig auszudrücken, noch verstehen sie dieselben von Deutschen oder Franzosen ausgedrückt. Wie gesagt, es giebt Ausnahmen, aber sie sind selten. – Wer aber keine gebildete Sprache spricht oder versteht, nimmt auch an der Cultur dieser Sprache und des Volkes, das sie spricht, nicht Theil. Daher die Verkommenheit, Rohheit, Verwilderung des im Kern so tüchtigen Elsasser Volkes, das übrigens leider kein Privilegium des Elsasses, sondern ein Gemeingut oder Gemeinunglück aller Volkstheile ist, die die Cultursprache ihres Volkes nicht verstehen. In Irland, ja selbst in manchem deutschen Volksstamme, theilweise auch in der Schweiz und Holland, hat dieselbe Ursache dieselben Folgen.

Der Elsaß wird erst die Möglichkeit des Besserwerdens, der Cultur wiedergewinnen, wenn er wieder deutsch sprechen lernt, wieder deutsche Schulen hat und dann an den Culturfortschritten der deutschen Nation wieder theilnehmen kann.

Darüber waren unsere Elsasser Wagennachbarn einverstanden, wie ziemlich sicher jeder deutsche Elsasser, der offenen Sinnes vorurtheilslos zu urtheilen im Stande ist und überhaupt über dergleichen nachdenkt. –

So waren wir, uns ausplaudernd, gute Freunde, ehe wir in Kehl ankamen. Hier wären die armen Straßburger fast noch einmal aus ihrer Vaterstadt ausgeschlossen worden, wenn der Officier, der uns begleitete, sie nicht in Schutz und so mit auf die fliegende Fähre, die sonst Civilpersonen nur mit besonderem Ausweis von Seiten der Militärbehörde betreten durften, genommen hätte. Dafür fühlten sich die heimkehrenden Verbannten doppelt verpflichtet und boten uns ein Bett bei ihnen an, wenn – ihr Haus noch stehe. Wir nahmen das Anerbieten gern an, denn wir wußten schon, daß ein Nachtlager kaum zu haben sein werde. Und das Haus stand noch; aber Alles war so durcheinander, daß wir Alle, auch die Wirthe, nur auf Matratzen, auf den Boden gelegt, schlafen konnten. Wir hatten aber deswegen nicht weniger, sondern nur um so mehr Gelegenheit, die liebenswürdige Gastfreundschaft der braven Straßburger – die uns erst, als wir Abschied nahmen, unsern Namen abfrugen – kennen zu lernen. Abends speisten wir noch Gefangenen- oder Belagertenkost - etwas Pferdefleisch und trockenes Brod mit prachtvollem Elsasser „Bordeauxwein“ –; am andern Morgen aber gab es, zum ersten Male seit vielen Wochen, wieder Milch und Butter zum Kaffee.

Die aufwartende Magd war eine – Französin und kündigte augenblicklich, als wir eintraten, den preußischen Officieren den Krieg an, um – eine halbe Stunde später eine zur Uebergabe bereite Festung zu sein, das heißt so freundlich und herzlich mit scherzte, als ob wir geborene Franzosen wären. Es wird wohl nicht viel schwerer mit den Anderen werden.

In dem Hause unseres Gastfreundes selbst, das zwar noch stand und glücklich weggekommen war, hatte eine Kugel, durch das Fenster kommend, die Zwischenmauer zweier Zimmer zerschlagen. Im Nachbarhause war das Dach zerrissen und eine Kugel von oben bis unten durch alle Stockwerke durchgeschlagen. Nicht weit von dem Hause unseres Gastfreundes hatte eine Granate einem Vorübergehenden den halben Schädel abgerissen, so daß die Spuren des verspritzten Gehirns noch an den Wänden zu sehen waren.

Wir kamen schon Abends am Dom vorbei und hatten mit hoher Beruhigung gesehen, daß er noch ganz und stolz aufrecht stehe. Am andern Morgen aber statteten wir ihm einen förmlichen Besuch ab und sahen dann leider, daß das herrliche Werk dennoch

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 714. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_714.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)