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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

an vielen Stellen stark gelitten hat. Das Dach des Chorschiffes ist gänzlich abgebrannt, die Wölbung des Schiffes aber nur an Einer Stelle von einer Bombe zerschlagen, die dann so unglücklich durchbrach, daß sie die schöne Orgel zerschmetterte; die großen riesenhaften Orgelpfeifen lagen zum Theil auf dem Boden, zum Theil hingen sie wie die hölzerne Umfassung in Fetzen herab. Die Uhr stand still; ein Fenster über derselben war zerschossen; das Eisenwerk und Drahtgeflechte, das das Fenster stützte, war in einen Knäuel verwickelt, und die Bombe, welche dort gehaust hatte und durchgezogen wär, könnte immerhin die Uhr beschädigt haben, dem äußeren Ansehen nach aber war sie unverletzt.

Ueberhaupt würde man dem Innern der Kirche die Belagerung kaum angesehen haben. Dagegen war der Schaden an der Außenkirche größer. Ueberall lagen Trümmerhaufen um die Kirche herum. Die Strebepfeiler des Schiffes waren vielfach zerschossen, hier und dort große Stücke ausgebrochen. Der Thurm steht so stolz wie je da, aber zerzaust, zerfetzt wie ein Soldat, der die wildeste Schlacht mitgemacht. Hier ist eine Ecke ausgebrochen, dort eine Statue zerschmettert; da steht eine Säule nur noch halb, die Hälfte liegt am Boden. Und so trägt der alte Riese Hunderte von Wunden zur Schau, dem Himmel Dank keine tödtliche. Die bezeichnendste aber ist die Entwurzelung des Kreuzes, die letzte Spitze des Thurmes. Es ist dasselbe in seiner Grundfeste zerschmettert und schwebt, auf die Seite geneigt, nur noch gehalten durch die vier eisernen Stangen, die es stützten, stets wie zum Falle bereit in der Luft.

Wer Lust hat, ziehe daraus Schlüsse, finde darin ein Omen; uns aber that es wohler, als wir, ehe wir von dem schönen Riesenwerke deutscher Kunst für heute Abschied nahmen, noch einmal das Ganze überblickten und dann ganz oben in der Ecke des Thurmes die weiße Fahne des Friedens, der Versöhnung bemerkten. Es war dieselbe, die den Belagerern das Ende ihres harten Tage- und Nachtwerkes verkündete. In der That, das ist die Fahne, das Banner des Doms, es sollte die aller Kirchen sein. Und es mag ja ein gutes Zeichen für die Zukunft sein, daß in den Tagen, wo der Papst in Rom seinen Untergang als Herrscher dadurch besiegelte, daß auch er glaubte, es müsse Blut fließen, es müsse die Militärehre seines Heeres gerettet werden, ehe er Rom den Römern und Italien zurückgab, daß gerade in diesen Tagen der zerschossene Münsterthurm zu Straßburg die Friedensfahne aufsteckte.

Möge das Symbol begriffen werden von Katholiken und Protestanten, von Christen und Philosophen, von Deutschen und Franzosen! Wolle Gott es!

Dann zogen wir durch die Straßen. Man hatte ja viel von den Bränden, der Zerstörung gelesen. Aber was wir sahen, überstieg weit unsere Befürchtungen. Von dem Breuil, der Steinstraße, dem Steinthor bis zum Nationalthor lagen Haus an Haus, vielleicht sechs- bis siebentausend und am Ende mehr Häuser am Boden. Die Zerstörung Jerusalems in den schauerlichsten Bildern nach den haarsträubendsten Schilderungen eines Josephus konnte nicht schauerlicher sein. Ueberall streckten nur noch Stücke der Umfassungsmauern der Häuser ihre zerrissenen Reste in die Höhe; hier und dort stieg ein Giebel ohne Haus, mit durchstoßenen Wänden vier, fünf Stockwerk in die Höhe, jeden Augenblick den Einsturz drohend. Hier lagen die eisernen Bettstellen zwischen den ausgebrannten Möbeln; dort streckten aus einer Vertiefung, einem ehemaligen großen Weinkeller, die mächtigen Reifen großer ausgebrannter Fässer ihre rußigen Arme über den Schutt hinaus. An einzelnen Stellen rauchten noch die Trümmer; weiter hin stieg in diesem Rauche der Geruch verbrannten Fleisches, Menschenfleisches, uns entgegen. An manchen Mauern waren die Namen der Besitzer noch zu lesen; andere Häuser, ganze Straßen waren so im Schutte verschwunden, daß man die Grenze des Eigenthums wohl schwerlich wiederfinden wird. An einem der Häuser zogen sich wie gespenstiges Spinngewebe die eisernen Gitterverzierungen vor den Fenstern am ganzen Giebel vorbei, während das Mauerwerk zum großen Theile hinter denselben verschwunden war. Bild an Bild – die grausigste Zerstörung!

Und zwischen diesen Ruinen hausten die „Ruinirten“. An einer Stelle, wo ein viele Fuß hoher Brandschutt aufgehäuft lag, sah man durch eine brandige Lücke in einen dunkeln Keller hinein. Eben kam ein alter Mann mit seinem Bette auf der Schulter herausgekrochen, hinter ihm her seine Tochter mit ihrem Kinde, seinem Enkel, an der Brust. Tiefes Elend und schwerer Kummer lag in den Zügen der Armen: der Vater des Kindes war durch eine Granate zerrissen worden, als er aus dem Keller heraustrat, um Brod für Frau und Kind zu holen. Als der alte Mann das Bett auf ein Wägelchen gelegt hatte, sagte er, wie zu sich selbst. „Und dort, das zerstörte Haus, war einst mein Vermögen.“

Entsetzlich viel Unglück müsden diese Ruinen bergen. Ein Straßburger Banquier versicherte uns, daß dreizehn Millionen Wechsel in der Filialbank der Staatsbank lägen, die er nicht um eine Million kaufen möchte. Die Schuldner dieser Wechsel waren einst alle wohlhabende Familienhäupter, jetzt sind sie Bettler.

Wir kamen über eine Brücke. Unten am Ufer waren Bretter gegen die Wand des Quais angelehnt. Dort wohnten die Unglücklichen. Drei Stangen in die Erde gesteckt, an denen ein eiserner Kessel hing, war ihr – Heerd. Und dieser Heerd – und ein Bett hinter jenen Brettern war Alles, was ihnen geblieben war von der Wohlhabenheit, die sie besaßen an dem Tage, als Napoleon der Dritte glaubte, seiner Dynastie durch den Krieg in deutschem Blute einen festern Boden sichern zu können. Es ist entsetzlich!

Man erzählte uns die Geschichte, oder besser, den Ausdruck der Verzweiflung eines wohlhabenden Mannes, dem mit seinem Hause, seinem Laden, seinem Waarenlager Alles, was er hatte, verbrannt war. „Weißt Du nun, was ich noch wünsche?“ sagte er einem Freunde. „Nun, was?“ – „Daß die ganze Welt bis zum letzten Splitter in Brand stände!“ Es ist das ein furchtbarer Ausbruch der Verzweiflung! Mich schauderte, als ich ihn hörte. Mir kam es so vor, als könnte ein Fluch gegen die ganze Welt in diesem Worte liegen. Und in meiner Seele antwortete eine Stimme auf diesen Fluch, wie zum Schutz gegen denselben mit dem Gebet, dem Seufzer: „O Herr, gieb Frieden!“ „Friede! Friede!“ rufen alle diese Trümmer, all’ das Elend, all’ dieser Kummer, all’ die rauchenden Ruinen und eiternden Wunden. Friede! Friede! Ihr stolzen Lenker der Erde – wenn Ihr den Weltbrand nicht zu verantworten haben wollt. Friede! Friede! um der Menschen und der Menschlichkeit willen!

Erst auf den Wällen aber sah man den ganzen Umfang des furchtbaren Wüstens der Kanonen. Von ihnen aus lag ein Fünftel der Stadt in Trümmern zu unsern Füßen. Die Wälle selbst boten das Bild der wilden Wuth der Sturmbrecher, aus weiter Ferne wirkend, dar. Riesige Kanonenlafetten lagen in Splittern herum; die Wälle selbst waren überall aufgewühlt. Ueberall Spuren der Zerstörung. – Endlich standen wir über der Hauptbresche selbst, rechts neben uns die zweite Bresche im „todten Winkel“ der Bastion – dem Winkel, den die Kanonen rechts und links nicht bestreichen können, der das Leben schützt, und den deswegen die todsuchende Kriegskunst den „todten Winkel“ nennt. – Hier bekam man die volle Achtung vor der schauerlichen Macht der Geschosse. Die Quadersteine waren zersplittert, die Mauer lag am Boden, der Wall sank nach; dreißig, vierzig Schritte breit mochte die Hauptbresche sein.

Gegenüber lagen die beiden eroberten Lünetten 52 und 53, von der einen derselben führte ein Weg bis zum Wassergraben vor der Bresche. Es würde noch ein hartes Stück Arbeit gekostet haben, wenn die Angreifenden über diesen offenen Weg fünfhundert Schritte lang zum Wassergraben vorgedrungen, diesen im Feuer des Feindes überbrückt, und dann die Bresche bis zur Höhe des Walles, zwanzig, dreißig Fuß hinauf, gestürmt hätten. Es schien nicht zweifelhaft, daß bei tapferer Vertheidigung der Sturm sehr schwer gewesen, jedenfalls sehr große Opfer noch gekostet haben würde.

Unser Begleiter, der Verwundete von Gravelotte, zweifelte nicht einen Augenblick, daß seine Kampfgenossen von Metz die Festung im Sturme durch die Bresche zu unseren Füßen genommen hätten; aber – er zweifelte ebenso wenig, daß sie, als Besatzung, den Sturm abgeschlagen haben würden. „Recht so!“ dachte ich. Es scheint aber fast, als ob auch nicht wenige von den Vertheidigern Straßburgs selbst letztere Ansicht getheilt, denn französische Officiere, die wir später sprachen, behaupteten alle, die Munituon habe nicht mehr gereicht und daher sei die Uebergabe unerläßlich gewesen.

In einem Anschlage an den Mauern belehrte der Maire von

Straßburg uns heute, daß eine Festung nach Kriegsbrauch sich übergeben dürfe, wenn zwei Breschen geschossen, und daß, nachdem das der Fall gewesen, der Commandant der Festung in die Uebergabe gewilligt habe. Wir hörten später auch erzählen, daß

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 715. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_715.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)