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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

die kindliche Stirn zeigte keine Falte, der Mund keinen herben Zug, aber im Auge, da lag jener Schatten schwer und tief, als sie es jetzt ernst und vorwurfsvoll zu dem Grafen emporhob.

„Ein Menschenleben scheint in Ihren Augen sehr wenig zu gelten, Sie gehen leicht genug über seine Gefahr hinweg.“

Graf Arnau sah bei dieser unerwarteten Zurechtweisung sehr erstaunt auf und maß die jugendliche Hofmeisterin mit einem langen, verwunderten Blick. „Der Bube ist ja heil und gesund!“ sagte er in wegwerfendem Tone, „er schreit nur zum Vergnügen.“

„Aber einen Moment später, und er wäre von den Pferden zertreten worden.“

Hermann zuckte die Achseln. „Wäre! – Ja wenn wir um Alles sorgen wollten, was hätte geschehen können, so reichte der Tag nicht aus zum Beklagen all’ der möglichen Vorfälle. Zum Glück ist hier Nichts geschehen, Ihre muthige Dazwischenkunft hat mich von einer unangenehmen Verantwortung befreit. Ich bedaure sehr, Sie erschreckt zu haben.“

„Ich bin nicht erschreckt.“ Die Worte klangen kalt und abweisend, die Art, wie er den ganzen Vorfall behandelte, schien das junge Mädchen zu verletzen. Sie kniete neben dem Kinde nieder und bemühte sich, das Gesicht und die Händchen des Kleinen von dem Sande zu reinigen der glücklicherweise die einzige Spur war, die der Unfall zurückgelassen.

Hermann blieb stehen und sah ihr zu. Er hatte bisher die Ansicht festgehalten, daß, mit Ausnahme seiner Großmutter, die er in Folge ihres energischen männlichen Charakters kaum zum weiblichen Geschlecht rechnete, jede Frau beim Anblick einer Gefahr in Ohnmacht fallen oder Weinkrämpfe bekommen müsse, und war sehr überrascht, hier eine zweite Ausnahme zu finden. „Ich bin nicht erschreckt,“ hatte sie erklärt, und sie war es in der That nicht. Das Gesicht hatte seine natürliche Farbe behalten, die Hände zitterten nicht im Geringsten, als sie sanft und geschickt ihre Arbeit verrichtete, das Mädchen zeigte jetzt ebensoviel Ruhe, als es vorhin schnelle Geistesgegenwart bewiesen hatte.

Jetzt öffnete sich die Thür eines der nächsten Häuser, eine Tagelöhnerfrau, ärmlich und ziemlich unsauber gekleidet, mit ungeordneten Haaren und einem stumpfen, ausdruckslosen Gesicht kam eilig herbei, um den Knaben aus den Armen der Fremden zu nehmen, – der Graf faßte in seine Tasche.

„Das Kind wäre beinahe unter meinen Wagen gerathen, gebt in Zukunft besser Acht darauf. Hier ist Etwas für den Schreck.“

Die stumpfen Züge der Frau, die kaum einige Besorgniß ausgedrückt hatten, belebten sich beim Anblick des blanken Thalers, der ihr in vornehm gleichgültiger Weise dargereicht ward. Sie knixte tief und dankte dem „gnädigen Herrn Grafen“ für seine Güte. Das junge Mädchen hatte sich halb von den Knieen erhoben, ihre großen Augen gingen langsam von der Mutter zu dem Kinde und dann wieder zu dem Gelde, das jene in der Hand hielt, sie stand plötzlich auf, kehrte der Gruppe den Rücken und ging, ohne ein Wort zu verlieren, dem Wirthshause zu.

Mit einigen raschen Schritten hatte Hermann sie eingeholt. „Sie sehen, der Schaden war schnell genug vergütet. Die Frau segnet jedenfalls den Unfall, der ihr das Tagelohn einer ganzen Woche eingebracht hat.“

Die Worte klangen halb wie Spott und halb doch wieder wie eine Art Entschuldigung, die Angeredete preßte die Lippen zusammen. „Ich glaubte nicht, daß eine Mutter so wenig Selbstachtung besitzen könne, sich die Angst um ihr Kind in solcher Weise abkaufen zu lassen.“

Hermann lächelte sarkastisch. „Selbstachtung! Bei einer Tagelöhnerfrau? Verzeihung, mein Fräulein, aber Sie kommen jedenfalls aus der Stadt und kennen unser Landvolk nicht.“

„Man kann auch in der Stadt die Armuth kennen lernen, zumal wenn man durch keine so unendlich weite Kluft davon geschieden ist, wie Sie, Herr Graf.“

Hermann biß sich auf die Lippen. „Ich meine,“ entgegnete er nun seinerseits scharf, „die Bildung, welche Sie von jenen Leuten trennt, ist eine ebenso weite Kluft. Haben Sie in der That so große Sympathien für dies stumpfsinnige, verkommene Volk?“

„Ich habe Sympathie für alles Unterdrückte und Elende.“

„Wirklich?“

Sie hatten inzwischen das Wirthshaus erreicht, das junge Mädchen machte eine leichte Verbeugung und legte die Hand an den Drücker, aber Hermann kam ihr zuvor. Er öffnete die Thür, ließ sie vortreten und folgte in das Gastzimmer.

Sie blieb stehen und sah ihn befremdet und abweisend an, es war augenscheinlich, daß sie nicht wünschte, das Gespräch fortzusetzen. Der Graf aber nahm es trotzdem wieder auf.

„Wirklich?“ wiederholte er und fügte dann in etwas gereiztem Tone hinzu: „Es scheint, daß Sie auch mich zu den Unterdrückern rechnen. Hoffentlich beschuldigen Sie mich nicht, das Kind gesehen und absichtlich überfahren zu haben.“

„Nein, aber die ganze Kinderschaar mußten Sie sehen. Warum wichen Sie ihr nicht aus?“

„Den Dorfkindern!“ rief der junge Graf mit einem so unverstellten Erstaunen, daß man wohl sah, der Gedanke daran war auch nicht im Entferntesten in seine Seele gekommen. „Ich soll den Kindern der Unterthanen meines Oheims ausweichen?“

Die Zumuthung kam ihm augenscheinlich ganz unerhört vor, die junge Fremde schien im Begriff zu antworten, aber plötzlich hielt sie inne und beugte sich aufhorchend vor. Ein halbunterdrückter Schrei der Freude entfloh ihren Lippen; sie hob wie unwillkürlich die Arme und war im Begriff fortzueilen, als sie sich auf einmal der Gegenwart Hermann’s erinnerte. Eine dunkle Röthe übergoß ihr Antlitz, langsam ließ sie die Arme wieder sinken und blieb wie angewurzelt stehen. Der Graf war der Richtung ihrer Blicke gefolgt und erkannte jetzt auch die Ursache dieser plötzlichen Veränderung, Eugen Reinert, der, nachdem er bereits draußen im Hausflur eine hastige Frage gethan, rasch und ohne die Nähe seines Freundes zu bemerken in’s Zimmer trat.

„Gertrud! Um Gotteswillen, Du hier!“

Sie flog auf ihn zu und reichte ihm mit einem strahlenden Lächeln, das das ganze jugendliche Gesicht verklärte, beide Hände entgegen, aber ein leises Wort aus ihrem Munde schien ihm zugleich zu sagen, daß sie nicht allein seien. Eugen blickte auf und fuhr beinahe zusammen.

„Ah, Hermann, Du bist es?“

Eine minutenlange drückende Pause folgte dem Wiedersehen. Gertrud blickte befremdet und fragend zu Eugen empor, der bleich und sichtbar verstört ihre Hand festhielt, ohne zu sprechen. Graf Hermann lehnte schweigend mit übereinandergeschlagenen Armen am Tische und sah unverwandt die Beiden an; der herbe feindliche Zug in seinem Gesichte trat in diesem Augenblick in wahrhaft erschreckender Weise hervor.

„Verzeih’, Gertrud,“ begann Eugen endlich, sich mühsam fassend, „ich glaubte, Dich allein zu finden. Du kennst –?“

„Nein,“ unterbrach sie ihn rasch. „Ich traf nur durch Zufall mit jenem Herrn zusammen.“

Es schien Eugen eine furchtbare Ueberwindung zu kosten, aber er nahm ihre Hand und führte sie dem Grafen zu.

„Meine – meine Braut, Hermann! – Gertrud, mein nächster, bester Freund, Graf Arnau.“

Gertrud war im Begriff, die kalte, sehr gemessene Verbeugung Hermann’s in gleicher Weise zu erwidern, bei Nennung seines Namens aber zuckte sie jäh zusammen. Eine Todtenblässe überzog plötzlich das eben noch so strahlende Gesicht, und ihre starren, weitgeöffneten Augen hefteten sich mit einem Ausdruck auf den jungen Grafen, der Eugen erschreckte, obwohl er ihm völlig unverständlich blieb.

„Was hast Du, Gertrud? Was ist Dir?“

„Nichts! Nichts!“ Sie strebte sichtbar, sich zu fassen, es gelang auch einigermaßen, aber der seltsame Blick war noch immer in ihrem Auge, während sie wie unwillkürlich weiter und weiter zurückwich und Eugen fast gewaltsam mit sich zog.

Hermann wendete sich rasch um. „Ich will die erste Zusammenkunft mit Deiner Braut nicht stören,“ er legte einen scharfen, hohnvollen Ausdruck auf das Wort. „Ich fahre jetzt nach dem Schlosse. Auf Wiedersehen denn!“ Mit kurzem Gruße verließ er das Zimmer und trat in’s Freie. Das – das also war Gertrud Walter, die Braut Eugen’s, das „kleine Bürgermädchen, das seinem vornehmen Freunde so widerwärtig erschien, weil es sich in die Laufbahn eines Mannes drängte und ihn in seine eigene niedere Sphäre herabziehen wollte.“ Ja freilich, er hatte sie sich anders vorgestellt, aber es war auch ein zu seltsamer Widerspruch zwischen dieser kindlichen Erscheinung und den so ganz unkindlichen Antworten, die sie zu geben wußte. Beides hatte

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 759. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_759.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2021)