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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

hinaus zogen bisher täglich Abtheilungen unserer Soldaten auf die Kartoffelernte, mit welcher sie die angenehmste Traubencur in den nahen Weinbergen zu verbinden pflegten.

Ausgezeichnet ist die Einrichtung, welche dafür sorgt, daß ein Verirren von Truppentheilen vom bestimmten Ziele unmöglich werde, und die natürlich auch mir zu Gute kommt. An allen Kreuzwegen sind nämlich von der Militärbehörde rein militärische Wegweiser angebracht. Da steht zum Beispiel an einem solchen: „Colonnenweg nach etc.,“ „Weg für die leichte Batterie X,“ „Nach dem Beobachtungsposten NN.“ etc. Außerdem bezeichnen hohe Stangen mit Strohwischen die Richtung dieser Wege für die Nacht. – Auch kurz vor Chelles sah ich zur Linken oben Kanonenrohre herablugen, und wie viele werde ich nicht gesehen haben! Weiterhin haben auf den Höhen bei Noisy hinter Brie die Württemberger ebenso wacker gesorgt.

Die Kalköfen spielen eine seltsame Rolle in diesem Kriege vor Paris; ich habe sie schon mehrfach zu erwähnen gehabt. Als großer Wohlthäter erwies sich der vor Chelles, an dem ich vorüberkam; bei ihm hat man einen alten Schacht entdeckt, aus welchem große Massen von Lebensmitteln zu Tage gefördert wurden. Links von Chelles, am Ufer der Marne, sah ich einen hohen Fabrikschlot dampfen wie im schönsten Frieden. Und was ist’s? Eine Nudelfabrik! Die Sachsen und Württemberger, auf deren militärischer Grenzmark sie steht, hatten, als sie des Schatzes inne wurden, nichts Eiligeres zu thun, als von ihren Leuten die nöthige Anzahl von Müllern, Bäckern und dergleichen abzucommandiren, und diese setzten mit Hülfe der requirirten Mehlvorräthe die Fabrik wieder in den schwunghaftesten Betrieb.

Herr Major Schlick, der Commandeur des zweiten Bataillons, welcher mich zu diesem Ausflug veranlaßt hatte, empfing mich mit landsmannschaftlicher Herzlichkeit, machte mich auf einige besuchenswerthe Punkte der Umgegend aufmerksam und gab mir eine Empfehlung an den Commandeur des ersten Bataillons, Herrn Hauptmann Kistner mit, die ich am folgenden Tag nach Kräften ausbeutete. Der Abend war da, ich mußte auf ein Nachtquartier denken. Bei den vielen Bekannten des Regiments aus Leipzig war dies bald gefunden, und bald saß ich, hauptsächlich von Einjährig-Freiwilligen umringt, beim Marketender. Unser frugaler Abendtisch bestand aus Butterbrod und Käse, und unsere Sehnsucht nach einem Glase Bier fanden wir mit einem Schnäpschen ab. Bei unseren vielen heimathlichen Anknüpfungspunkten fehlte es nicht an Unterhaltungsstoff, aber zur Heiterkeit brachte es selbst die Jugendlichkeit der Gesellschaft nicht, alle, namentlich die akademischen Genossen, waren noch tief ergriffen vom plötzlichen und erschütternden Tode eines der Ihren, des Leipziger Studenten Paul Segnitz. Vor wenigen Wochen als Einjährig-Freiwilliger mit der Ersatzmannschaft des Regiments hier im Lager angekommen, nahm er freiwillig an einer Schleichpatrouille Theil, welche im Dorfe Villemomble in Kampf mit einer ihr vierfach überlegenen Abtheilung Franzosen gerieth, und wurde dabei höchst unglücklich verwundet; die Kugel eines Miniégewehrs, jenes mörderischen Geschosses, mit welchem England unsere Feinde gegen uns bewaffnet, zerschmetterte ihm die beiden Knochen des Unterschenkels. An der Wand eines Hauses niedergesunken, wurde er, da die Unsern sich eiligst zurückziehen mußten, vor französischer Gefangenschaft nur durch zwei Gefreite, Trautner und Langer, mit eigener höchster Gefahr gerettet. Aerztliche Hülfe war sofort zur Hand; dennoch nahm die Verletzung einen so schlechten Verlauf, daß dem jungen Mann das ganze Bein amputirt werden mußte. Standhaft ertrug er die Operation, aber wenige Stunden darnach war er todt. Sein Begräbniß bleibt Allen unvergeßlich. Sechs Cameraden trugen den Sarg aus der Kirche hinaus zum hochgelegenen Friedhof von Chelles; der Oberst, der Major, die meisten Officiere und die ganze Compagnie folgten ihm, und nachdem Major von Boße eine kurze kräftige Anrede gehalten, rollte der Sarg, von einem milden Regen befeuchtet, unter gedämpftem Trommelwirbel in die Tiefe. Anstatt der Ehrensalve, die der Nähe des Feindes wegen unterlassen werden mußte, donnerten im selben Augenblick die Kanonen vom Fort Nogent herab, und ein schöner Regenbogen schmückte den Himmel.

So erzählten die Cameraden, und ernster als je in diesem ganzen Feldzug suchten wir Alle das Nachtlager.

Am andern Morgen stellte ich mich dem Herrn Hauptmann Kistner vor und durfte seinem Bataillon auf die Vorposten folgen, nach denen es eben abzog. Auf der großen, breiten sogenannten Kaiserstraße, die sich dadurch besonders auszeichnet, daß der Fahrweg mit großen Quadern gepflastert ist und zu beiden Seiten sich wohlgepflegte Rasenwege hinziehen, kamen wir über Chenay nach dem schon genannten Ville-Evrart, einer großartig angelegten und ausgeführten Irrenanstalt. In dem Verwaltungsgebäude derselben befand sich, hart unterm Dach, ein Beobachtungsposten, von dessen Standpunkt man eine Aussicht genoß, so prachtvoll, daß sie mein heutiges Bildchen in’s Leben rief.

Vor uns lag, das reizende Thal von Neuilly überragend, auf seinem breiten Hügel das Fort Nogent und kehrte uns den stärksten Theil seiner Befestigung zu; wir sind ihm so nahe, daß wir durch unsere Gläser die Wachen auf ihren Posten unterscheiden und die Handhabung der Alarmstange des Forts beobachten können. Rechts davon die Feldschanze Fontenay und noch weiter, vom Hügel Avron halb verdeckt, das Fort und tiefer das Dorf Rosny. Dorthin, namentlich zu den Weinbergen des Avron, geht eine Lieblingsrichtung der Schleichpatrouillen, die sich sogar schon bis in die ersten Häuser von Rosny vorgewagt haben. Links vom Fort Nogent zeigen sich auf der Höhe Thurm und Dächer vom Dorf Nogent und noch weiter links erkennen wir eine zerstörte Eisenbahnbrücke über die Marne und dahinter in der Ferne die Höhen, welche das Becken von Paris im Südwesten begrenzen. Der Luftballon schwebt über der großen belagerten Stadt.

Ich hatte eben meine Verwunderung darüber ausgesprochen, daß man unsern Beobachtungspunkt auf dem Dache nicht vom Fort Nogent aus mit einigen Schüssen bedenke, als ich durch den Augenschein überzeugt wurde, daß die Munition auch dort nicht geschont wird. Eine Reiterpatrouille wurde im Thale zwischen der letzten Gartenmauer und dem Gottesacker von Neuilly sichtbar, und sofort brummte es aus dem Fort und eine Bombe schlug keine hundert Schritte von den Reitern in den Boden.

Zur Sicherstellung der Unseren gegen Ausfälle aus Fort Nogent gehört auch die Barrikade, welche den Vordergrund meiner Illustration bildet. Wenn wir die Kaiserstraße, auf welcher wir nach Ville-Evrart gelangt sind, nach Neuilly hin weiter verfolgen, so stoßen wir auf diese modernste aller Verschanzungen. Ein kleiner Bach kreuzt dort die Landstraße und ihn benutzte man gleichsam als Wallgraben dieser kostspieligen Feldbefestigung. Denn verschiedenartigeres und werthvolleres Baumaterial kann selbst Rochefort zu seinen Pariser Barrikaden nicht zu verwenden gehabt haben. Da sind kunstreich in einander gefügt Karren und Tische, Fässer und Stühle, Fensterläden und Gartenplanken, Hundehütten und Kanapees, Thüren und Matratzen – und dies Alles, um gelegentlich in Stücke geschossen zu werden. Für den Einlaßposten war rechts, auf der Illustration nicht sichtbar, ein Häuschen hergestellt; die Feldwache und Reserve liegen ebenfalls mehr rück- und seitwärts. Vor uns sehen wir zu beiden Seiten der Kaiserstraße, kurz vor Neuilly, Doppelposten und etwa hundert Schritte weiter, unmittelbar vor dem Ort, sind am Stamm einer Pappel zwei Latten horizontal angebracht, welche die Höhe eines Mannes in dieser Entfernung angeben.

In der Barrikade ging es während meiner kurzen Anwesenheit[1] recht lebhaft zu. Eine Patrouille hatte ein Prachtexemplar von einem Franctireur aufgegabelt und überlieferte ihn und seine Waffen dem dienstthuenden Officier. Letztere interessirten uns ganz besonders als neutrale Liebesgaben der Herren Engländer für unsere Feinde: sie bestanden aus einem vortrefflichen Snidergewehr von allerdings sehr starkem Kaliber, und aus einem Seitengewehr, das sich von dem unserer Infanterie nur dadurch unterscheidet, daß, während bei dem deutschen an der Parirstange der vordere Haken aufwärts, der hintere abwärts geht (s. Fig. 1), bei diesem englischen (s. Fig. 2), beide Haken nach unten gebogen sind. Daran ist also zu erkennen, wie viel englische Arbeit künftig unter unserer Armaturbeute zu finden sein wird.

Fig. 1.   Fig. 2.

Links im Winkel sind zwei Soldaten bemüht, einen Schatz

  1. Unser Feldmaler hat sich selbst als Schlachtenbummler mit in die Scene gesetzt, aber, äußerst bescheiden, nur von hinten sichtbar.   D. R.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 818. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_818.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)