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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

Auge gewesen und blieb es auch Alfred fort und fort. Er war der böse Geist der ganzen Gegend, der immer wieder verdarb, was dieser gut machte. Er trieb Wucher und verführte die Leute zu Trank und Spiel, daß sie immer mehr herunterkamen. Dann lieh er ihnen Geld auf ihre Besitzungen, und wenn sie nicht fähig waren zu bezahlen, zog er ihr Hab und Gut ein. Von alledem wußte natürlich der alte wunderliche Herr auf Schloß Schornkehmen nichts, und Niemand konnte es ihm sagen, denn er ließ Keinen in seine Nähe kommen, als den schlauen Verwalter, der ihn ganz umsponnen zu haben schien.

„Wartet nur,“ tröstete Schmetthorn oft die Leute, wenn sie klagten, „sobald der Alte stirbt und sein Herr Bruder an die Reihe kommt, da wird’s besser. Da soll alle Tage Sonntag und jedes dritte Haus ein Krug sein.“

Die Bauern schüttelten die Köpfe, denn Graf Egon trieb sich immer noch drüben in Polen herum und der Verdacht der Spionage war nun einmal unzertrennlich von seinem Namen; wenn er ihn indessen mit Branntwein abwaschen wollte, so konnte man sich das immerhin gefallen lassen. Endlich kam der Tag, der die schönen Verheißungen wahr machen sollte. Eines Morgens läutete zum ersten Male seit Jahrzehnten das Glöckchen auf dem Schloßthurme von Schornkehmen. Es war ein trauriges Geläut. Tausende von Spinnweben zerrissen, als der Schwengel sich in Bewegung setzte. Alte und junge Käuzchen flogen erschreckt aus den Lucken, wo sie so lange ungestört genistet hatten; die kleine Colonie des Ungeziefers hatte schon längst vergessen, daß die Glocke eigentlich da sei zum Läuten, und erhob ein Jammergeschrei, da sie sich bewegte und Alles wegschleuderte, was so sicher auf sie gebaut schien.

Aus dem Schlosse bewegte sich ein Leichenzug quer durch den Wald der Brücke zu, die über eine schmale Stelle des Sees nach den Schorn’schen Ländereien jenseits führte. Dort wurde der Graf Friedrich in die Familiengruft gesenkt. Sein Geleit war klein, Niemand als der Geistliche, der Kreisphysicus, ein paar Rittergutsbesitzer aus der Umgegend und Alfred gaben ihm die letzte Ehre. Das Gesinde goß das Wasser, womit die Leiche gewaschen war, nach Masurischer Sitte in Kreuzesform hinter dem Sarge aus, damit der Geist des Todten nicht wiederkehre, und dann schauten sie sich besorgt an: Wer gab ihnen denn nun den üblichen Leichenschmaus? Da kam ein Reiter mit schweißbedecktem Pferde herangesprengt: „Ich gebe ihn Euch, Ihr Leute!“ rief er, als er die Klagen der „Leidtragenden“ hörte. Es war ein immer noch stattlicher Mann, etwas gedunsen und verlebt, aber hoch zu Roß und von einschmeichelndem Wesen. Er hatte zwei Furchen in Kreuzesform im Gesicht, es war der Bruder des Verstorbenen, Graf Egon.

„Komm’ ich zu spät?“ fragte er hastig, „ist mein Bruder schon beerdigt?“

Die Leute zeigten ihm den Weg, den der Zug zum Kirchhof genommen, und er warf sein Pferd herum. „Auf Wiedersehen beim Leichenschmaus!“ rief er nickend und ritt dem Zuge nach. Er erreichte ihn noch an der Kirchhofmauer, stieg ab und schloß sich an. Als der Sarg geweiht und beigesetzt war, trat er auf die Umstehenden zu, welche bisher nicht gethan, als hätten sie ihn gesehen, und verneigte sich. „Die Herren kennen mich wohl nicht mehr, wie es scheint? Ich war etwas lange aus der Gegend fort. Ich stelle mich Ihnen vor als Ihren Gutsnachbar, Erben von Schornkehmen!“

Die Herren lüfteten leicht die Hüte, und der Aelteste von ihnen sprach ruhig, kalt und gemessen: „Wer der Erbe des Grafen Friedrich von Schorn ist, geht uns nichts an – wollen Sie gefälligst Ihre Mittheilungen hierüber den zuständigen Behörden machen.“

Und ohne ihn weiter eines Blickes zu würdigen, verließen die Herren den Kirchhof. Egon senkte den Blick zu Boden, er war schwer getroffen. Aber als er die Augen wieder aufschlug, sah er, daß nicht Alle fort waren. Einer war geblieben. Er betrachtete erstaunt das schöne Gesicht mit dem vollen Bart und den ernsten durchdringenden Augen, die so unbeweglich, so vernichtend auf ihn gerichtet waren. Das Gesicht war ihm bekannt, es knüpfte sich etwas Entsetzliches für ihn daran. Wer war der Mann? Warum wich ihm alles Blut bei seinem Anblick zum Herzen zurück? Eine gelbe Blässe überzog die glatten gedunsenen Wangen und fast tonlos fragte er: „Wer sind Sie?“

„Alfred von Salten!“ war die ruhige Antwort.

„Herrgott!“ schrie Egon laut auf und taumelte zurück wie ein Besinnungsloser. Er mußte sich an dem Portal des kleinen Erbbegräbnisses halten, um nicht umzusinken.

Alfred betrachtete ihn mit unaussprechlicher Verachtung. „Erschrecken Sie nicht, ich habe nur wenige Worte mit Ihnen zu reden. Als ich ein leidenschaftlicher kurzsichtiger Knabe war, schwur ich, meine Mutter, meinen Vater an Ihnen zu rächen; dieser Augenblick überzeugt mich, daß ich meine dem Dienste der Menschheit geweihten Hände nicht mit Ihrem Blute zu besudeln brauche, denn Gott hat mein Rächeramt übernommen und so furchtbar an Ihnen vollzogen, wie kein Sterblicher es vermocht hätte. Verachtet, gemieden als Spion der russischen Regierung, abhängig von dem gemeinen Schurken, Ihrem Gefängnißwärter, der hier den Herrn spielt, weil er Sie einst um schnöden Lohn vor schmachvoller Strafe rettete - äußerlich so tief gesunken, innerlich so gepeinigt von steter Furcht vor der Strafe, daß mein bloßer Anblick Sie zu Boden schmettert, - zerrüttet, gealtert, krank -! Was könnte ich Ihnen noch Schlimmeres anhaben, was Ihnen nehmen, als ein Dasein, von dem Sie zu befreien eine Wohlthat wäre? Nein, gehen Sie hin und leben Sie weiter wie bisher - dann ist meine Rache vollzogen!“

Egon wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Ich beschwöre Sie, Sohn meiner geliebten Adelheid, hören Sie -“

„Schweigen Sie!“ rief Alfred empört. „Nennen Sie den Namen nicht. Meine Mutter büßte und starb wie eine Heilige, ich will ihr Andenken nicht beflecken lassen durch einen Hauch Ihres Mundes.“

Egon versuchte wieder zu sprechen.

„Schweigen Sie,“ befahl Alfred gebieterisch, „und hören Sie, was ich Ihnen zu sagen habe. Ich darf Ihnen Ihr verwirktes Leben schenken, damit Sie elend seien, aber nicht, damit Sie elend machen. Wenn Sie so fortfahren, die Ihrem Schutz empfohlenen Leute an den Rand des Abgrundes zu führen, wie es Ihr Verwalter bisher that, dann sind Sie nicht nur erbärmlich und verächtlich, sondern gemeinschädlich, und dann wird es meine Pflicht, meinen Schwur so zu erfüllen wie es für das Wohl aller anderen Menschen am besten ist. Das merken Sie sich: Sie sind mir verfallen und ich werde Sie einfordern, wenn es nöthig ist.“ – – – – –

Alfred hielt Wort; er beobachtete Egon fast ein Jahr lang, und dieser lebte unter seinen wachsamen Augen wie unter dem Schwert des Damokles. Der König hatte Alfred zum Landrath ernannt, und er versah dies Amt mit der ihm eigenen Gewissenhaftigkeit und unerbittlicher, aber weiser Strenge. Als indessen der furchtbare deutsch-österreichische Krieg ausbrach, da litt es ihn nicht mehr zu Hause, und er trat wieder unter die Fahne des rothen Kreuzes, die er selbst errichten geholfen. So blieb er lange von den Gütern fern, und als er endlich mit Ruhm bedeckt zurückkehrte, wählte ihn der Kreis Lyk in das Abgeordnetenhaus. Eine großartige Thätigkeit als Abgeordneter wie als Arzt hielt ihn von nun an in der Residenz fest. In Politik und Wissenschaft wuchs sein Ruf von Tag zu Tag. Mittlerweile aber zogen sich die Wolken um Masuren immer drohender zusammen. Der Winter des Jahres 1867 nahte. Fortwährende Regengüsse waren niedergeströmt und hatten die Ernte vernichtet. Das Getreide enthielt statt des Kerns nur einen klebrigen Brei. Die Flüsse hatten meilenweit die Ufer unter Wasser gesetzt. Die ganze Nachbarschaft um Alfred’s Güter her war zu Grunde gerichtet. Aber auch auf Alfred lasteten die Wolken schwer, welche wie schmutzige triefende Lumpen vom Himmel herabhingen. Wieder mußte er Summen aufbringen, um rechtzeitig der Noth zu steuern und die Ersparnisse aus dem Gewinn der Fabrik fielen mit zum Opfer. Aber er murrte nicht. „Wohl mir, daß ich es noch kann!“ sagte er.

Noch saßen die Bursche und Mädchen in den Spinnstuben beim Kienspahn und sangen hungernd und frierend ihre masurische Volkshymne:

 „Lobet Ihr andere Länder, wie’s Euch gefällt,
Für mich bleibt Masuren das schönste der Welt.
Schau’t, wie die Seen so herrlich brausen,
Darinnen die köstlichen Fische hausen!
Aus den Bergen kann man den Kalkstein hauen,
Von dem sich die Reichen die Häuser bauen,
Und die Wälder, wie dunkel und wild sie stehen,
Drin spielen die Hasen mit scheuen Rehen.
In Heerden halten wir die Gänse, die fetten,
Die uns liefern die Braten und warmen Betten.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 847. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_847.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)