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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

No. 51. 1870.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften 5 Ngr.


Aus eigener Kraft.
Von W. v. Hillern geb. Birch.
(Fortsetzung.)
24. Frühlingsstürme.

In südlichen Ländern erscheint der Frühling als ein lieblicher Knabe, der dem altersschwachen abgelebten Tyrannen Winter seine Macht abschmeichelt und leichten Schrittes an seine Stelle tritt – milde lächelnd der erstarrten Natur die Winterketten löst und Balsam in ihre Wunden träufelt. Ganz anders zeigt sich der Frühling im Norden. Dort ist er kein tändelnder Knabe mehr; bis er dorthin kommt, ist er zum Manne gereift, zum gewaltigen Mann, der den Kampf mit einem Giganten aufnimmt. Wer den furchtbaren nordischen Winter kennt, der allein weiß, welch’ Riesenwerk der Frühling dort zu vollbringen hat, um seine Aufgabe zu erfüllen. – Es ist ein Kampf von Elementen, es ist ein Ringen auf Tod und Leben in der Natur, daß die Erde erzittert – ein Schauspiel, dem das kleine Menschengeschlecht mit Entsetzen beiwohnt. Dem nordischen Frühling schlägt kein träumerisches Mädchenherz entgegen beim melancholischen Geplätscher der aufthauenden Bäche, sein Nahen ist das Nahen eines wilden Eroberers, sein Athem ist Sturm, unter seinen Tritten dröhnt und knirscht die berstende Decke des Eises und der ausbrechende Strom überfluthet brüllend die Gefilde. Zitternd beugt sich der Mensch vor diesem Frühling und flüchtet entsetzt, wenn er ihn anstürmen sieht, im furchtbaren Anlauf die Bollwerke des Winters zertrümmernd, rings um sich her Eisblöcke wegschleudernd und in der Kampfeswuth die Bäume ausreißend, die er belauben sollte. –

„Das Eis kommt,“ schrieen die Bewohner des Lyk-Gestades eines Mittags, als die erste warme Frühlingssonne wieder ihre goldenen Pfeile herabsandte. Diese feinen Geschosse waren als kleine Keile mit ihren scharfen Spitzen in die glitzernde Eisdecke eingedrungen und hatten sie allmählich gelockert, bis plötzlich ein donnerähnlicher Knall erfolgte. Wie Strahlen schossen die Sprünge nach allen Richtungen der Windrose über die glatte Fläche hin und wie ein wilderregtes übervolles Herz gegen die Rippen pocht, so schlug der schwellende Strom gegen die geborstene Decke an, immer stärker, in immer ungeduldigeren Stößen. Allmählich kam diese in Bewegung, bald da bald dort sich spannend und sperrend, hier emporgehoben, dort von den übersprudelnden Wellen hinabgesenkt, brach sie in Stücke, und nun wälzten sich die schäumenden Wogen darüber, darunter hin, in rasender Wuth die abgelösten Blöcke mit sich fortreißend, bis sie an eine Stelle kamem wo das Eis stehen geblieben einen Mauerbogen bildete, unter dem sich die compacte Masse aufstaute zu einem furchtbaren Bollwerk für die dahindrängende Fluth. Geschiebe auf Geschiebe, Block an Block thürmten die Wellen zu einem undurchdringlichen Damm vor sich auf. Wohin sollte sie sich nun ergießen die hochangeschwollene Fluth? Jetzt war der drohende Augenblick da, wo die Brandung mit ihrer vollen Wucht gegen die Dämme, die Deiche anschlug, gebieterisch mit wildem Ungestüm den Ausweg fordernd, brausend und kochend, als brenne ein Feuer unter dem riesigen Kessel und jage den dampfenden Schwall empor aus dem tiefsten Grunde.

Doch die Deiche hielten den ersten Andrang aus, den zähen Widerstand der feinen Weidenwurzeln, welche das Erdreich durchflochten wie eiserne Drähte, vermochte das Wasser nicht zu brechen, die zarten Pflanzen bildeten ein elastisches unzerreißbares Gewebe, stärker als Stahl und Stein; wie die treue stille Ausdauer in der Menschenbrust oft mehr vermag als ein rascher stürmischer Anlauf.

So stieg denn die Fluth empor bis an den Rand des Bettes – zum Ueberfließen!

Rathlos sahen die Strandbewohner des Haasznensees und des Lyk dem entsetzlichen Schauspiel zu. Ein solcher Wasserstand war nie erlebt, wer hätte gedacht, daß die gewaltigen Dämme je zu niedrig werden könnten? In Todesangst riefen die armen Menschen die Nachbargemeinden um Hülfe an, um die Dämme aufzuschütten; von dem Thurme auf Schloß Schornkehmen wallte eine lange schwarze Fahne als Nothzeichen herab; die Schwestern Bella und Wika schickten einen reitenden Boten nach der nächsten Station, um an Alfred zu telegraphiren, und von nah und fern eilten die Gemeinden hülfsbereit herbei. Die armen, von Hunger und Krankheit geschwächten Leute machten sich mit zitternden Händen an’s Werk, um dem Unheil zu wehren. Ohnmächtiges, nutzloses Beginnen! Vor diesem Feinde ließ sich kein Bollwerk mehr aufthürmen, das Stand halten konnte. Jede neuangetriebene Eisscholle konnte es zertrümmern und es kamen ihrer immer mehr und mehr vom Haasznensee daher und stapelten sich auf den ungeheuren Eisberg auf, wie gewaltige Schiefer. Es war, als quöllen alle Wasser der Erde aus den unheimlichen Strudeln des Haasznensees, so unerschöpflich sich immer neugebärend strömte und wallte es von da oben den Lyk herab. –

Egon irrte händeringend in seinen Gemächern hin und her. Das Unglück war für ihn unabsehbar, er besaß nichts als seine Felder und Wiesen jenseits des Sees, und wurden sie überschwemmt, dann war er ein ruinirter Mann. Da trat Schmetthorn herein, verschmitzt lächelnd wie immer. „Das Schütten nützt nichts bei

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 853. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_853.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)