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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

und Freudenbringer erschauen läßt. War es schon die Kunst gewesen, die ihn vor dem letzten erschreckenden Schritte der Selbstvernichtung bewahrt hatte, so blieb auch sie es, die ihm nicht blos Linderung der Leiden, sondern unvergleichliche Freuden schuf. Die Kunst war es aber auch, die ihm wieder manches helfend liebende Gemüth zuführte, vorab jene so höchst musikalische und liebliche junge Gräfin Marie Erdödy, geb. Nitzky aus Ungarn, in deren Hause und bei deren Kindern er in Wien viel jener Güte und zarten Theilnahme fand, deren er so sehr bedurfte. Und war es nicht sie, diese „treueste Freundin“, die einst, als seit Tagen das Zimmer des Unglücklichen sich nicht geöffnet hatte und nicht Speise und Trank zu ihm gekommen war, so daß in der mit des Meisters Leid wohlvertrauten Freundin der nur zu gegründete Verdacht entstand, er wolle sich den Tod durch Hunger geben – war es nicht diese „liebe Gräfin Marie“, die mit thränender Bitte an seiner verriegelten Thür hing und nicht nachließ, als bis endlich, endlich zunächst ein Laut des Lebens ertönte und dann schließlich geöffnet ward? – Das ihr kurz darauf gewidmete Trio in D dur (Opus 70, I) kündet uns im ersten Satze sowohl den heldenmüthigen und doch fast verzagenden Kampf gegen das Geschick und in dem Adagio das wahrhaft herzzernagende sinnumdunkelnde Leid, um dessen willen er sich vor der Zeit in die Oede des Todes zu versenken gedachte.

Denn was an Glück und Freude auch diesem Manne und zwar auch ungemischter als Anderen vorbehalten war, es wurde ihm vor Allem hier zu Theil, und zwar sowohl in dem weihevollen Genusse des stillen Schaffens wie in der festlich erregten Theilname und lauten Anerkennung der öffentlichen Aufführungen. Ja, kein Künstler je konnte sich größerer Ruhmeserfolge getrösten als unser Beethoven. Und diese öffentlichen Erfolge seines Schaffens und die allgemeine Verehrung, die er als Mensch erfuhr, waren wohl reicher Ersatz für das, was ihm das Privatleben entzog oder vorenthielt. Das große Concert im November 1814, das gar einen Theil der Festlichkeiten des Wiener Congresses ausmachte und bei dem die „Schlacht von Vittoria“ und die A dur-Symphonie die Hauptrolle spielten, zeigte ihm in dem begeisterten Beifall eines fast sechstausendköpfigen Publicums, das zudem die geistige Bildung Europas vertrat, zuerst seine ganze eigene Bedeutung. Im Jahre 1824 aber, als selbst dem genußsüchtigen Wiener der Rossini-Taumel zu arg ward und man den ergrauten Altmeister deutscher Tonkunst anging, einmal wieder das ernsterhabene Antlitz seiner Muse zu zeigen, gewann die Aufführung eines Theils der großen Messe in D und der Neunten Symphonie eine Aufnahme, die voll Begeisterung war und schließlich in eine allgemeine Scene der Rührung ausbrach, als der taube Meister, der am Dirigentenpulte stehend nicht einmal das Tosen des Beifalls hinter sich vernommen hatte, von der später so berühmten Sängerin Karoline Unger umgedreht und auf die jubelnde Menge aufmerksam gemacht ward. „Kein Auge fast blieb das trocken,“ heißt es von diesem Vorfalle, „und Beethoven selbst stand endlich von Rührung ergriffen mit nassen Augen da. Es war ein wahrhaft goldener Lohn und ein kühlender Balsam für die Wunden, die das Leben ihm geschlagen.“

Wir hörten schon, wie er im „Fidelio“ die weibliche Treue geschildert hat. Aehnlich suchte er in seiner dritten Symphonie, die ebendarum Eroica heißt, dem großen geschichtlichen Thun seiner Tage und namentlich dem mächtigen Helden derselben, dem Consul Napoleon Bonaparte, nach seiner Weise einen künstlerischen Ausdruck zu geben. General Bernadotte, später König von Schweden, hatte bereits im Jahre 1798 ihn aufgefordert, dem großen General der Republik ein musikalisches Denkmal zu setzen, und es trüge vielleicht auch heute den Namen „Napoleon-Symphonie“, wenn nicht auch Beethoven eine unüberwindliche Abneigung gegen den einstigen Freiheitsbringer ergriffen hätte, sobald derselbe sich die kaiserliche Tyrannenkrone aufsetzte. Aber mochte das Titelblatt des Werkes bei dieser Nachricht mit Zorneswuth zerrissen, den Heldenschritt jener großen Zeit und das eine neue Welt gebärende Wühlen derselben bewahrte uns dasselbe dennoch auf.

Von den geschichtlichen Vorgängen mehr und mehr unbefriedigt wandte sich des Meisters Sinn dann zunächst den großen inneren Processen zu, in welche seit der Reformation die Menschheit wieder eingetreten war; er componirte die C moll-Symphonie, über deren Bedeutung befragt er selbst einmal geantwortet hat: „So klopft das Schicksal an die Pforte!“ – es entstand die schöne Pastoral-Symphonie, wo er mit den einfachen Worten der eigenen Erlebung schildert, wie er im Tempel der Natur und einfacher Menschen den Frieden der Seele und „der wahren Freude innigen Wiederhall“ gefunden habe, den er im Leben überall vergeblich gesucht hatte. Jetzt aber verliert er diese Spur nicht wieder und seine Seele hört nicht mehr auf, nach der Lösung der Räthsel unserer Brust zu streben.

Selbst seine Lectüre spiegelt dieses ernste Zusammenfassen seines Gemüthes wieder. Ein damals sehr beliebtes protestantisches Erbauungsbuch, „Chr. Sturm’s Betrachtungen über die Werke Gottes im Reiche der Natur und der Vorsehung“, das sich den für Beethoven’s lebhaften Natursinn so besonders willkommenen Zweck gesetzt, „die Natur zu einer Schule für das Herz zu machen,“ füllt durch Jahre manche arbeitsruhige Stunde aus, und die Auszüge, die er sich daraus in seinen Tagebüchern und sonst wo gemacht und die nebst anderen Stellen aus seiner Lectüre, als Shakespeare, Homer, Herder, Schiller, Goethe und den Alten, vor Kurzem von dem Verfasser dieser Zeilen als Festschrift unter dem Titel „Beethoven's Brevier“ (Leipzig, E. J. Günther) veröffentlicht und so dem allgemeinen Interesse zugänglich gemacht worden sind, bekunden ganz diesen betrachtenden Sinn. Ja, als besonders der schmerzliche Tod seines jüngsten Bruders Karl im Jahre 1815 und die mit so viel Leid verbundene Annahme des unglückseligen „Neffen“ seine Seele noch empfindsamer und eines dauernden Trostes bedürftig gemacht haben, hören wir ihn oft mit der ganzen Energie seines Herzens nach höherem Rath rufen, und wahrhaft erschütternd klingt das Wort im Tagebuch von 1817: „Hart ist der Zustand jetzt für dich! Doch der droben, o, er ist, und ohne ihn ist nichts!“

Umsomehr mußte es ihm erwünscht kommen, daß gerade damals die Einführung des Erzherzogs Rudolph in seine neue Würde den Anlaß bot, auch diese Gefühle einmal mit aller Kraft zusammenzufassen. „Opfere noch einmal alle Kleinigkeiten des Lebens. O Gott über Alles!“ rief er sich zu, als er jetzt die Composition desjenigen Werkes begann, das er später selbst als sein vollendetstes bezeichnete, – die Missa solemnis. „Von Herzen kam’s, möge es wieder zu Herzen gehen!“ schrieb er auf das erste Blatt, und fast vier Jahre wirkte er an diesem Wundergewebe, bei dem er manchmal in einem Zustande „völliger Erdentrücktheit“ sich befand, wie er früher niemals an ihm gesehen worden. Er strebte im tiefsten Innern darnach, zunächst sich selbst den ersehnten Frieden zu geben und diesen Gewinn dann auch Anderen zu verschaffen.

Und daß er den Kreislauf menschlicher Empfindungen mit Schiller’s Ode „An die Freude“ abschließt, bestätigt uns ganz den innerlich harmonischen und beglückten Zustand seines eigenen Gemüthes. Schöner ist denn auch das Lied von der Freude, jenes „Seid umschlungen, Millionen! Diesen Kuß der ganzen Welt!“ niemals gesungen worden, als von diesem Mann, der doch mehr von ihrem Leid, als von ihrer Wonne zu kosten bekommen hatte!

So reiht sich denn dieses Schaffen eines Heros der Musik nach seinem Sinn und Gehalt wie nach seiner künstlerischen Vollendung an das Schaffen all’ unserer Großen auf andern Gebieten, an Schiller’s herrliche Dramen und Goethe’s Faust unmittelbar und würdig an und verkündet das alte Evangelium der Menschheit in neuer beglückender Form. Darum auch war sie für Beethoven selbst ein Heiligthum, seine Kunst. Er fühlte sich als ihren Priester und erachtete gar „ihre Offenbarungen höher, als was Worte sagen“. Dieses Bewußtsein, wie er selbst es bescheiden genug ausdrückte, „einigen Einfluß auf seine Zeit geübt zu haben,“ war es denn auch, was ihn so oft über sein eigenes Mißgeschick „zu den Sternen“, das heißt, zu jenem Born der Freude geführt hatte, der in der Betrachtung des ewigen Laufs der Dinge quillt – und was ihn auch auf dem langen letzten Krankenlager dem Tode mit wahrhaft sokratischer Weisheit und wahrer Seelenruhe entgegen sehen ließ.

Jetzt aber begreifen wir auch, warum unwillkürlich Verehrung uns erfaßt, wenn wir den Namen dieses großen Meisters aussprechen hören: er war einer der Deuter und Propheten unseres Seelenlebens, wie sie von Zeit zu Zeit zu uns kommen, um Noth und Qual der bedürftigen Menschheit zu stillen. Und er ward dies, weil er mit echt männlichem Muthe die Bedrängnisse des Lebens in sein Inneres aufnahm und sie mit eigener Kraft zu tilgen suchte. Dadurch aber lehrte er uns auch von Neuem an uns selbst und an die Kraft des eigenen Herzens glauben, und

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 862. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_862.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)