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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

daß er in ihm den Zeugen seines Verbrechens hütete und endlich davor zitterte, sein Geheimniß auf die Verschwiegenheit eines Kindes gebaut zu sehen. Vielleicht ahnen Sie, welches das Loos dieses Kindes an seiner Seite war! Hätte sich meine Großmutter nicht bisweilen schützend zwischen uns gestellt, es hätte ein Unglück gegeben. Sie war es, die damals mit ihrem ganzen Vermögen, mit all ihrem Einfluß in die Schranken trat, um den drohenden Ruin und die demselben unvermeidlich folgende Entdeckung der Wahrheit von uns abzuwenden, die später, nach dem Tode meines Vaters, während einer zehnjährigen Vormundschaft die zerrütteten Verhältnisse allmählich ordnete, so daß ich mich wieder zu den Reichen zählen kann. Muß ich Ihnen erst sagen, Gertrud, welch ein Fluch mir dieser Reichthum gewesen ist? Ich konnte die unterschlagene Summe nicht ersetzen, ohne Verdacht zu erregen, aber ich konnte mich auf Umwegen der Hinterlassenen des Unglücklichen annehmen. Seit meiner Mündigkeit habe ich nicht aufgehört, ihre Spur zu suchen, habe alle nur möglichen Quellen benutzt – es war umsonst. Ich suchte die Wittwe und das Kind Brand’s, und ahnte nicht, wie nahe mir das letztere war. Gertrud! das Schicksal hat uns auf seltsame Weise zusammengeführt – geschah es wirklich nur, damit wir uns auf Tod und Leben bekämpfen sollten? –“

Seine Stimme sank bei den letzten Worten wieder zu jenen weichen innigen Lauten, die sie schon einmal aus seinem Munde vernommen, und wie damals schien das ganze Wesen des Mädchens darunter zu erbeben, aber sie kannte jetzt die Gefahr und floh sie.

„Nicht diesen Ton, Graf Arnau – ich bitte Sie – lassen Sie uns bei der Sache bleiben.“

Er neigte stumm das Haupt.

„Mein Vater hatte bei Ablieferung der fraglichen Gelder eine Quittung von der Hand seines Chefs, Ihres Vaters, empfangen. Wußten Sie darum?“

„Nein. Aber mein Vater leitete selbst die Beschlagnahme der Papiere des Rentmeisters. Er wird sie vernichtet haben.“

„Sie ward nicht vernichtet. Ein Zufall hielt sie jahrelang verborgen. Sie ist in meinen Händen!“

In sprachlosem Entsetzen fuhr Hermann zurück, in demselben Augenblick ward die Portiere von einander gerissen und die Präsidentin stand im Zimmer.

„Sie lügen, Mademoiselle! Das ist unmöglich, das kann nicht sein!“

Gertrud hatte sich überrascht, aber nicht erschreckt umgewandt, sie begegnete fest den drohenden Blicken der alten Frau. „Ich lüge nicht. Ich wiederhole es, die Quittung ist gefunden, ist seit einer Stunde in meinem Besitz.“

Inzwischen hatte Hermann sich wieder gefaßt, er raffte all seine Energie noch einmal zusammen. „Sie tragen das Papier bei sich? Darf ich es sehen?“

Sie erschrak bei der Zumuthung und legte unwillkürlich beide Hände wie schützend auf die Brust. Er lächelte bitter.

„Fürchten Sie einen erneuten Diebstahl? Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß das Blatt unverletzt in Ihre Hände zurückgelangt.“

Langsam zog Gertrud das Papier hervor und reichte es ihm hin; er schlug es auseinander, die Blicke der Präsidentin hingen in athemloser Spannung an seinen Zügen. Niemand sprach während der folgenden Secunden, aber der Graf stützte sich schwer und schwerer auf den Tisch, sein Antlitz war geisterbleich; mit abgewandtem Gesicht gab er endlich, ohne ein Wort zu sprechen, das Blatt zurück, warf sich in den Sessel und legte die Hand über die Augen.

Die Präsidentin wußte genug. „Mademoiselle“ – es war vergebens, daß sie ihrer Stimme Festigkeit zu geben versuchte, sie zitterte hörbar – „Mademoiselle, Sie können und werden keinen Gebrauch von diesem Documente machen, es klagt einen Todten an.“

Gertrud richtete sich finster empor; sobald ein Dritter in die Unterredung eintrat, hatte sie ihren vollen Muth wieder. „Meinen Sie, Frau Präsidentin? Aber dieser Todte starb als ein hochgeachteter ehrenwerther Mann, und mein Vater liegt entehrt und beschimpft in der Gruft des Selbstmörders. Meinen Sie, die Tochter würde anstehen, ihn zu rächen?“

„Bauen Sie nicht zu fest auf dies Papier, unsere Gerichte verfahren nicht gegen Verstorbene, und was die Ueberlebenden betrifft – wir sind zu jedem Opfer, zu jedem Ersatz bereit, der nur in den Grenzen der Möglichkeit –“ sie schwieg plötzlich, die so energische Frau senkte fast scheu das Auge vor dem Blicke Gertrud’s. „Hüten Sie sich, Mademoiselle!“ rief sie in ausbrechendem Grimme, „hüten Sie sich, uns auf’s Aeußerste zu treiben. Noch ist die Familie des Grafen Arnau mächtig und einflußreich genug, und sie wird Alles daran setzen, wenn es ihre Ehre gilt. Wagen Sie es nicht, das Papier dort aus den Händen zu geben, das Verderben könnte auf Sie selbst zurückfallen.“

Ein Ausdruck unendlicher Verachtung zuckte um die Lippen des Mädchens. „Ich will doch abwarten, ob es dieser mächtigen einflußreichen Familie zum zweiten Male gelingt, der Gerechtigkeit in’s Gesicht zu schlagen; ich will sehen, ob die Gerichte des Landes es wagen, mich abzuweisen, wenn ich mit diesem Beweise vor sie hintrete. Sparen Sie Ihre Worte, Frau Präsidentin. Was ich zu fürchten hatte, ward überwunden, ehe ich hierher kam; jetzt kann mich nichts mehr beirren.“

Sie hatte mit kalter unbewegter Festigkeit gesprochen; wenn ihre Züge vorhin starr waren, so schienen sie jetzt völlig versteint; der einzige Ausdruck in ihnen war der einer furchtbaren Entschlossenheit. Die Präsidentin sah, daß hier nichts mehr zu erreichen war; sie stellte sich vor den Ausgang, ihn mit ihrem Leibe deckend.

„Nun denn, Hermann, so wahre Du Deine und unser Aller Ehre! Es muß sein!“

Ihr Blick, mehr noch als ihre Worte, forderte den Grafen auf, sich mit Gewalt in Besitz des verhängnißvollen Papiers zu setzen.

Hermann hatte sich erhoben, auch er schien einen letzten Entschluß gefaßt zu haben, aber mit einer Handbewegung wies er die Zumuthung seiner Großmutter zurück und ging auf Gertrud zu, die fest und furchtlos dastand.

„Gertrud!“

Sie schauerte leise zusammen, aber sie gab ihre entschlossene Haltung nicht auf.

„Ich habe kein Recht, Schonung von Ihnen zu verlangen. Thun Sie, was Ihr Gewissen Sie heißt. Sie können keine Klage gegen Grafen Arnau erheben, er ist todt; aber Sie können auf Grund dieses Documentes das Ihnen widerrechtlich entzogene Vermögen öffentlich zurückfordern und dadurch den Namen Ihres Vaters von dem Makel reinigen, während Sie den meinigen an den Pranger stellen.“

Seinen Worten gegenüber hielt die Entschlossenheit Gertrud’s nicht so unbedingt Stand, sie senkte das Haupt.

„Ich – weiß es.“

„Sie wissen es! Wohlan, so wissen Sie auch, daß ich alsdann verloren bin. Ich habe versucht, in angestrengter Thätigkeit den Fluch zu vergessen, dessen Erbe ich geworden bin. Ich hatte Vieles erreicht und hoffte Alles von meiner Laufbahn; das ist zu Ende in dem Augenblicke, wo die öffentliche Schande mich erreicht. Weder meine Stellung, noch meine Beziehungen zum Fürstenhause können davor bestehen; ich muß sie lösen, um hinfort in der Dunkelheit und Thatenlosigkeit einen entehrten Namen zu verbergen. Für eine Natur wie die meinige heißt das den Untergang aussprechen. Gertrud, die Macht und das Recht dazu liegt in Ihren Händen. Sie üben nur Wiedervergeltung; – wenn Sie es können, so vernichten Sie mich.“

Ein Aufstöhnen entrang sich der Brust des gequälten Mädchens; sie wollte fliehen, aber der Bann seines Auges, seiner Stimme hielt sie willenlos gefesselt. Er stand vor ihr, ohne Bitte, aber auch ohne Vorwurf, nur sein Auge brannte in leidenschaftlicher Unruhe, es tauchte tief, tief in das ihrige, als wolle und müsse er jetzt bis auf den Grund ihrer Seele schauen.

„Gertrud! Es gilt die Ehre Ihres Vaters, und es gilt mein Verderben – vernichten Sie mich!“

Die Arme des Mädchens sanken schlaff hernieder, mit einem herzzerreißenden Ausdruck hob sie, wie um Erbarmen flehend, den Blick zu ihm, er traf den seinigen, eine Secunde verfloß, eine Ewigkeit für die Beiden, dann plötzlich faßte Gertrud mit beiden Händen krampfhaft das verhängnißvolle Blatt - es flog zerrissen zu seinen Füßen. –

Die Präsidentin stand sprachlos; sie hatte die letzte Scene zwischen den Beiden, Hermann’s unbegreifliches Benehmen, nicht verstanden, erst als sie sah, wie er das Mädchen stürmisch in seine Arme zog, ward ihr die Wahrheit klar. Die stolze alte Frau wankte und stützte sich auf einen Sessel, das war zu viel in einer einzigen Stunde.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 867. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_867.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2021)