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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)

No. 32.   1873.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 16 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.


Schuster Lange.

Novelle von Ernst Wichert.

Daß der alte deutsche Handwerkerstand immer mehr im Schwinden, kann als eine Thatsache gelten, über die unter Gelehrten und Ungelehrten kein Streit obwaltet. Er verliert sich in den allgemeinen Arbeiterstand und büßt den Fabrikanten gegenüber seine Selbstständigkeit ein, die ihrerseits nicht einmal in die Lehre gegangen sein dürfen, sondern „ihr Capital arbeiten lassen“ und „wie Kaufleute“ verdienen wollen. Leute, die sich den Kopf darüber zerbrechen, was aus der Welt werden solle, sind sehr verschiedener Meinung über diese Umgestaltung der Gesellschaft. Die Einen klagen, sie sei sehr bedauerlich und bedrohe den conservativsten Theil des städtischen Mittelstandes zum großen Schaden der Gemeinden und des Staates mit gänzlicher Auflösung; die Andern finden es durchaus zu loben, daß der allgemeine Fortschritt endlich auch mit diesen, nur noch geschichtlich berechtigten, aber jetzt veralteten Formationen aufräume; die Allerklügsten sagen: ob gut, ob übel, es ist natürlich, daß es so kommt, und man muß den Dingen ihren Lauf lasten.

Zu diesen Allerklügsten, rathe ich wohlmeinend, wollen auch wir gehören – wenigstens so lange wir uns mit dieser sehr einfachen Geschichte beschäftigen, die es mit einem ganz alten Handwerkerhause zu thun hat, und mit einem ganz altmodischen Manne, der da hinein paßt. Dergleichen Bau- und Gesellschaftsreste aus längst entschwundenen Tagen ragen manchmal recht wunderlich fremd und doch gemüthlich anheimelnd aus ihrer Umgebung vor und in die modernste Gegenwart hinein. So ein altes Haus und so ein alter Mensch sind selten bequem, aber einmal ansehen mag man sie doch gern.

Wie ich die Bekanntschaft jener Beiden machte, ist ein so prosaischer Vorgang, daß ich Bedenken tragen müßte, ihn mitzutheilen, wenn ich nicht die Verpflichtung fühlte, durchweg der Wahrheit die Ehre zu geben. Und so sei denn gesagt, daß ich einmal einem befreundeten Arzte in Ermangelung anderer Leiden klagte, wie sehr mich die Stiefel drückten, und daß er mir darauf eine gelehrte Vorlesung über die schädlichen Folgen unpassenden Schuhwerks für den ganzen menschlichen Organismus hielt und mit der Bemerkung schloß, es gäbe nach seinen Erfahrungen nur einen einzigen Schuhmacher in der Stadt, zu dessen Kunst man volles Vertrauen haben könne, und er heiße Lange, wohne in der kleinen Schustergasse Nr. 11 und habe keinen offenen Laden, aber ein sehr respectables Geschäft. „Der Mann wird Sie auch sonst interessiren,“ setzte er schmunzelnd hinzu, „und ich wundere mich eigentlich, daß Sie ihn nicht schon selbst entdeckt haben; er ist in seiner Art ein Original. Was er macht, ist vortrefflich, aber man muß mitunter lange darauf warten, wenn er überhaupt von einem neuen Kunden Bestellungen annimmt. Das Beste wird sein, ich führe Sie bei ihm ein, dann thut er vielleicht ein Uebriges. Kommen Sie gleich mit – Ihre Acten laufen nicht fort.“

Er hatte mich neugierig gemacht, und ich nahm gern neben ihm im Doctorwagen Platz, um mich nach der kleinen Schustergasse fahren zu lassen, die in dem engsten Theil der engen Altstadt liegt und in der Zeit, als in den Städten jede Berufsclasse sich auch örtlich zu sondern und zusammenzusetzen liebte, die Mitglieder der ehrsamen Schusterzunft vereinigt hatte. Wir hielten mitten in der Gasse vor einem jener schmalen und tiefen Bürger- und Handwerkerhäuser, die nur zwei Fenster Fronte, dafür aber vier Stockwerke übereinander haben und mit einem hohen Spitzgiebel schließen, den man mit dem Auge nur ermessen kann, wenn man den Kopf tief in den Nacken zurücklegt. Aus den massiven Holzrinnen zu beiden Seiten des Daches wuchsen Drachen von Blech mit weitaufgesperrten Rachen über die Straße hinaus und auf dem Gesims von Holzschnitzerei über der Hausthür hatten drei Figuren Platz, von denen die mittelste und höchste einen Handwerksmeister in mittelalterlicher Tracht mit Federhut und Schwertgehänge vorstellte. Das hohe und schmale Fenster daneben zeigte noch kleine, in der Mitte schneckenartig ausgebauchte Scheiben in Bleieinfassung. Das entschieden Merkwürdigste an diesem unteren Geschoß war aber unzweifelhaft das runde Schild zwischen Thür und Fenster: in der Mitte war ein Schuh abgebildet, wie man ihn zur Zeit des dreißigjährigen Krieges zu tragen pflegte, und darunter stand, offenbar in sehr alten Schriftzügen, „zünftiger Schuhmachermeister“, während der obere Theil vielfach mit Oelfarbe übermalt zu sein schien und auf der obersten Decke jetzt den Namen „Gotthilf Lange“ trug. Die ganze Geschichte des Hauses war von diesem kleinen Schilde abzulesen; die Bewohner wechselten; jeder löschte den Namen seines Vorgängers aus und setzte den seinigen an die Stelle, aber der „zünftige Schuhmachermeister“ blieb immer derselbe und wohnte auch jetzt noch dort, allen neueren Gewerbegesetzen zum Trotz, die von der Zunft nichts mehr wissen wollten und nicht einmal mehr von der Meisterschaft sonderlich viel hielten.

Der Doctor setzte einen messingenen, spiegelblanken Klöppel in Bewegung – ein Glockenzug fehlte – worauf eine Magd öffnete. Sie trug die kleine weiße Mütze, „Hülle“ genannt, auf dem Kopfe, die wir noch in unserer Kinderzeit als Dienstbotentracht

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 511. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_511.JPG&oldid=- (Version vom 3.8.2020)