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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Gläser gefüllt und mit brausendem Hoch auf das Vaterland und den glücklichen Schützen pflichtschuldigst bis auf die Nagelprobe geleert wurden. Sodann ging der gewonnene Pokal von Mund zu Mund. Der Hauptparasit stimmte schließlich einen zur Situation nicht ganz passenden Cantus – „Wer hat dich, du schöner Wald“ – an, und seine auf eigene Gefahr – aber nicht Rechnung! – eingeladenen Freunde secundirten nach Kräften. Der kleine Vortänzer war mittlerweile auf einen Tisch gestiegen, von welchem herab er allerlei kleine Spaße machte. Bald gab er Räthsel auf, bald hielt er einen Sermon in allen möglichen Dialekten des Schweizerlandes, bald copirte er einen verstimmten Leierkasten oder eine Dudelsackpfeife, bald tanzte er einen Hopser, bald krähte er wie ein Hahn. Als aber der Pokal an ihn kam, setzte er ihn an, leerte ihn, ließ wieder füllen, trank wieder bis auf die Neige und so „mit Grazie in infinitum.“ Der sieggekrönte Schütze sieht jedoch der Unendlichkeit dieses parasitischen Durstes mit gemischten Gefühlen zu, und

Die Augen gingen ihm über,
So oft trank Der daraus.

„Dort ist Mani, der Berner Mutz, das Wappenthier von Bern“ sagte mein Cicerone, als wir weiter gingen. Ein zottiger Bär, die Hellebarde in den Tatzen, humpelte hin und her. Bald verlor er sich in dem Menschenstrome, der von dem Schießstande her in die Halle strömte, denn eben kündigten Kanonenschüsse an, daß das eidgenössische Fest sein Ende erreicht habe. Mani marschirte bald gravitätisch an uns wieder vorbei.

„Bei dem schönen Geschlechte ist der Berner Bär übel angeschrieben,“ versetzte mein Begleiter. „Sehen Sie denn nicht, wie sich die Damen vor ihm verbergen? Sie fürchten, er möchte mit ihnen den ‚Niedlichen‘ oder den ‚angenehmen Schwerenöther‘ – wie man am Rheine sagt – spielen, und sie lieben seine offenkundigen Galanterien nicht sonderlich, mag auch noch so ein hübscher Kerl in seinem Pelze stecken.“

Er hatte kaum ausgesprochen, als der Berner Mutz ein ahnungsloses Bauernmädchen in kleidsamer Schwyzertracht erwischte und in bärenhaft täppischer Weise unter vergnügtem Brummen umarmte. Das arme Ding suchte mit feuerrothen Wangen sich seinen Liebkosungen zu entziehen, „jüngferlich kreischend“, wie es in Voß’ „Louise“ heißt.

Dann humpelte der schlimme Mutz weiter und verschwand in der Menschenmenge, um jedoch gleich darauf wieder sichtbar zu werden – auf der Rednerbühne! Der freche Geselle wird doch keine Rede halten wollen? Doch nein! er führte blos zum rauschenden Strauß-Walzer „An der schönen blauen Donau“ den dazu gehörigen Bärentanz aus. Homerisches Gelächter ertönte von allen Seiten, als man ihn bemerkte, denn der Petz ist der Liebling aller Festbesucher, wegen seines prächtigen Humors, den er selbst bei dreißig Grad Réaumur im Schatten und in seiner schweren Haut nicht verliert. Und als die Musik schwieg, da hielt auch das heraldische Thier von Bern im Tanzen inne und zeigte mahnend mit plumper Tatze auf das an der Tribüne befindliche weiße Schweizerkreuz im rothen Feld. Das beweist, daß hinter dem zottigen Felle ein vaterländisch fühlendes Herz schlägt, denn es soll ein In hoc signo vinces! (in diesem Zeichen wirst Du siegen!) sein, eine Mahnung an alle Schweizer, sich an’s Vaterland anzuschließen, und allezeit das Banner politischer und religiöser Freiheit aufrecht zu halten.

Eben verhallte der letzte Kanonenschuß. Das eidgenössische Freischießen zu St. Gallen war zu Ende, eine erhebende Feier, ein wirkliches Volksfest in einem glücklichen Lande.

Z.




Epische Briefe.


Von Wilhelm Jordan.
II.


Am Schluß meines ersten Briefes versprach ich, Sie einzuführen in die Werkstatt des Epos.

Wo haben wir dieselbe zu suchen? Wo wächst und bricht der Marmor, aus welchem die epische Kunst ihre Gebilde meißelt? Wo können wir sie bei der Arbeit belauschen und sehn, mit welchen Mitteln, unter welchen Bedingungen, nach welchen Regeln sie schafft und zu welcher Verwendung sie bestrebt ist ihr Kunstwerk geeignet zu machen?

Beginnen wir mit der letzten dieser Fragen.

Jedes Kunstwerk hat die Bestimmung, durch die Sinne erfreulich zu wirken auf das Menschengemüth, genossen zu werden mit den Augen, den Ohren oder mit beiden zugleich; denn den Leistungen des Kochs und des Parfumeurs wird außer ihnen selbst Niemand geneigt sein, schon den Rang von Kunstwerken zuzugestehen. Auch die Leistungen vermittelst der Sprache sind Kunstleistungen, wenn ihre Anordnung die richtige und schöne Entfaltung einer Grundidee ist und die Rede, Erzählung oder Schrift in der Einbildungskraft des Hörers oder Lesers eine harmonische und anschauliche Gesammtvorstellung hervorbringt.

Diese Sprachkunst wird zur Poesie, wenn die Laute, welche Begriffe, Vorstellungen, Empfindungen und Anschauungen mittheilen, zugleich Musik machen, und diese Musik eine ähnliche Stimmung weckt, wie der mitgetheilte Inhalt. Diese Musik der Sprachkunst kommt zu Stande durch die Anordnung der Laute nach Regeln des Wohlklanges, durch Assonanz, Reim oder Stabreim, durch melodische Führung der Vocalisation und anmuthende Vertheilung ihrer Klangfarben.

Poesie ist also darstellende Sprachmusik.

Sie hat drei Gattungen, zwei unselbstständige, welche ihre Bestimmung nur in Verbindung mit anderen Künsten erfüllen können, und eine selbstständige und deshalb höchste, weil in ihr die Sprachkunst und ihre unzertrennliche Zwillingsschwester, die Sprechkunst, die sinnliche Verwirklichung des Kunstwerkes allein und ganz besorgen können.

Die erste dieser Gattungen ist die lyrische Poesie. Ihr echtes Kunstwerk ist das Lied, von dem der Poet als solcher nur einen Haupttheil, den Text, erzeugt. Um in seine volle Kunstexistenz zu treten, bedarf es noch des Componisten, der eine Weise dazu setzt, und des Sängers, der es mit dieser ausführt. Was die Lyrik sonst noch an sogenannten Gedichten hervorbringt, sind sammt und sonders Zwitter- und Bastardgebilde, welche an die Kunst mehr oder minder streifen, ohne ihre Bedingungen jemals rein zu erfüllen.

Die zweite Gattung ist die dramatische, in welcher die Dichtung nur durch eine ganze Reihe helfender Künste und Handwerksverrichtungen ihrer Bestimmung gemäß ausgeführt werden kann; nämlich durch die Darstellungskunst des Schauspielers, Costümkunde und Schneiderarbeit, durch den Decorationsmaler, den Maschinisten, den Lichtordner u. a. m. Ihr durchaus falscher, obwohl so ziemlich in allen Literaturgeschichten und Poetiken besiegelter Anspruch, die höchste der poetischen Gattungen zu sein, wird uns in einem späteren Briefe beschäftigen.

Die dritte und allein selbstständige Gattung, welche die beiden vorigen insofern einschließt, als auch sie sowohl Empfindungen und Stimmungen mitzutheilen, als auch Handlungen darzustellen hat, ist die epische.

Auch sie kann sich förderlich unterstützen lassen durch eine bescheiden begleitende, streckenweit ganz verstummende, und nur an geeigneten Stellen eingreifende Musik. Sie scheint das in früheren Zeiten immer gethan zu haben. Aber solche Musik ist ihr nicht unentbehrlich.

Nicht verzichten aber, ohne ihre wahre Kunstwirkung einzubüßen, darf sie darauf, daß ihre eigene Musik zur Ausführung komme. Nicht blos ihre nachträgliche Wirkung, auch schon ihr eigenes rechtes Zustandekommen, das ihrer Darstellung wie das ihrer Musik, würde sie damit verhindern. Denn das Geheimniß, wie diese Darstellung beschaffen sein muß, ist schlechterdings auf keine andere Weise zu erfahren, als durch viele Proben, und die Regeln, nach denen die Noten ihrer Sprachmusik durch Tact, Rhythmus, Anlaut, Anklang, Gleichlaut, Vocalisation und Tonfarben gesetzt werden müssen, sind auch nicht anders zu gewinnen, als durch den oft wiederholten Versuch, sie da klingen zu lassen, wo sie gehört zu werden bestimmt sind.

Nehmen Sie einem Architekten Bauplatz, Stein, Mörtel,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 564. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_564.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)