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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

zur führenden Weltmacht. Das Hoffnungslicht, welches die Heldenschatten der Vergangenheit bestrahlen muß, wenn sie wieder zu lebendigen Gestalten werden sollen, kann der Poet nur hernehmen vom Morgenrothe eines neuen Heldenalters, und

Gedeihen verleiht zu dauerndem Leben
Dem Heldengesang nur die Sonne des Sieges.

Drittens aber ist auch die Epoche solchen Machtaufschwunges eines epischen Volkes nur in einem Falle vollkommen und fertig ausgerüstet, um die vom einzelnen Poeten zum Kunstepos zu gestaltende Kernsage zum echten Nationalepos werden zu lassen: wenn sich gleichzeitig mit den staatlichen Siegen auch der Sieg einer neuen und höheren Gestalt der Religion über eine alte unzureichend gewordene im Bewußtsein des Volkes zu vollziehen im Begriffe ist.

Niemals erfinden kann, aber vorfinden und deutlicher als alle Anderen erkennen und voller zusammenfassen muß der Dichter des Epos diese neue Religion; nicht um sie zu predigen, was er gar nicht darf, sondern lediglich um seine Gestalten und deren Thaten mit ihr zu durchleuchten und in den Schicksalen der Helden das Walten ihres höheren Sittengesetzes zur Anschauung zu bringen.

Durch diese Leistung erst sind die Epen Homer’s zur nicht blos künstlerischen, sondern auch nationalen und weltgeschichtlichen Großthat geworden. Die frühere griechische Religion erkennen wir aus den hesiodischen Dichtungen, welche zwar mit den homerischen höchstens gleichzeitig, ihrer letzten Fassung nach wahrscheinlich viel später entstanden sind, aber offenbar beruhen auf der vorhomerischen und zum Theil gewiß priesterlichen Tradition. Diese alte Religion ist in den homerischen Epen gänzlich verwandelt. Bei Hesiod sind die Götter, wenn auch menschlich symbolisirt, noch die schieren Naturgewalten; bei Homer aber sind sie, in den echtesten Stellen der Ilias beginnend, in der Odyssee in schattenloser Vollendung, die Träger der sittlichen Mächte des Menschengemüthes.

Von so unvergänglicher Wirkung ist seine Großthat deshalb, weil bei ihm diese Verwandlung der alten Religion in vielen Stücken schon angekommen ist bei Vorstellungen, wie sie auch die verklärteste Gestalt des Ewigen aller Religion niemals reiner aussprechen wird.

Und wohl dem Volke, dem seine Religion nicht in Dogmen von zünftigen Priestern, sondern von solch einem Dichter in Vorbildern geboten wird! Keinen geringen Theil ihrer Herrlichkeit verdankten die Hellenen ihrem Homer. Wären sie nur in einem Hauptstücke weniger weit zurückgeblieben hinter der Größe ihres Poeten! Verführt von der größeren, jugendlich genialen Frische und Farbenpracht der Ilias, wußten sie die Odyssee, das im Einzelnen minder bestechende, aber weit vollendetere und edlere Kunstwerk, niemals verdientermaßen zu würdigen. Denn in das höchste Ideal ihres Dichters, in das homerische Musterbild der durch ihre Tüchtigkeit, Gattentreue und weise Mäßigung über alle Anfechtungen triumphirenden Familie, sind sie niemals hineingewachsen. Auch ward es Hauptursache der frühen Zerrüttung und Verderbniß ihres Volkslebens, daß sie, über Kleinasien angesteckt von semitischem Wollustcultus, bald kein Verständniß mehr hatten für die homerische Frauenwürde. Weil sie es versäumten, seine Andromache, Nausikaa, zumal Penelope, aus Poesie in Fleisch und Blut zu übersetzen, sind sie zu Grunde gegangen an ihren Laïs, Phrynen und Aspasien.

Daß die Erfüllung jener Vorbedingungen des Epos im Zeitalter Homer’s wirklich zusammengetroffen, das ist uns auch in der Zeitenferne noch erkennbar geblieben. Sein Volk war ein eminent episches; denn es hatte die arische Ursage zu reichster Fülle erweitert und genoß sie schon seit geraumer Zeit in den Liedern, welche die Sänger bei Festen und Schmausereien vorzutragen pflegten. Auch hatte sich ein Haupttheil dieser Sage in bereits nationaler Färbung krystallisirt um die Trümmerstätte einer zwei bis drei Jahrhunderte zuvor zerstörten Stadt, nahe der wahrscheinlichen Heimath des Dichters.

Eine Vereinigung griechischer Stämme hatte, oder sollte mindestens dieses damals schon sagenhafte Troja erobert haben. In der Epoche des Dichters aber war auch in Wirklichkeit der Westen der kleinasiatischen Halbinsel von einem solchen Bunde der Stämme des Mutterlandes siegreich erobert und colonisirt worden zu einer Menge blühender Gemeinwesen, in denen sich das Hellenenthum zum ersten Male verheißungsvoll auch nach außen entfaltete. Daß auch die Erfüllung jener dritten Bedingung, die Verwandlung der Religion, eine Arbeit seines Volkes gewesen, welche er nur zusammenzufassen und zum poetischen Ausdrucke zu bringen hatte, das ist uns freilich nicht mehr nachweisbar, aber darum nicht minder gewiß. Denn große Poeten mit ihrer Spiegelnatur eignen sich nicht, mit einsam ergrübelter Ueberzeugung der ganzen andersdenkenden Welt den Krieg zu erklären als Religionsstifter, und ebenso unverträglich mit ihren Gaben ist der Bekehrungseifer der Apostel. Nur als die Sammler der Erscheinungen zu treuen Bildern geben sie durch diese Zeugniß, daß sich eine neue Phase vollzogen hatte im Glauben ihres Volkes.

Die Werkstatt also, in der die Völker werden, ist auch die wahre Werkstatt des Epos.

Es bleibt gar wenig, ja, genau betrachtet, nichts übrig, was vom Zustandekommen des Epos der einzelne Poet sein Verdienst nennen darf. Denn auch die letzte Fertigstellung, die allerdings nicht geschehen kann ohne den einzelnen Künstler, ist nicht sein Verdienst, sondern sein Glück: das unschätzbar hohe Glück, in der Epoche zweier großen Weltbegebenheiten ein Sohn des Volkes zu sein, das dieselben vollbringt und sie, als episches Volk, in großer Vorzeitsage schon deutlich geahnt und sich vorgezeichnet hatte; das Glück endlich, durch die sogenannten Zufälligkeiten seines Lebenslaufes hinein gedrängt, in Wahrheit durch heilige Führung hinein befohlen zu sein in den Beruf, in welchem er lernen mußte, der Mund zu werden, durch den diese Sage auf’s Neue reden will in der Sprache der Zeitgenossen, um die Ahnungen der Vorfahren erfüllt zu zeigen in einer glorreichen Gegenwart.




Der Alte von der Schmücke.


Thüringer Berg- und Waldbild.


Vor einiger Zeit erzählte eine Thüringer Zeitschrift „ein Stückchen vom alten Joel“, das als eine gelungene Einführung in die intime Bekanntschaft mit dem einst vielgenannten Mann auch unsern Artikel über ihn einleiten mag.

„Wer Joel war? In kurzen Worten will ich’s sagen: der ehemalige Wirth auf der Schmücke, jenem Waldwirthshaus am Schneekopf, Thüringens zweithöchstem Berg, zwischen den Waldstädten Ilmenau und Suhl, so recht mitten im trauten Thüringerwalde. Joel also war nur ein Wirth, aber was für ein Wirth! Ureigenartig, bieder, derb, knurrig, freundlich, theilnehmend, spöttisch, witzig, aber – kreuzbrav. Hat manchem vorlauten Bürschchen heimgeleuchtet, daß es nur so eine Art hatte; auch hochgestellte Personen fürchteten seinen beißenden Spott und suchten auf gutem Fuße mit ihm zu stehen. Man konnte gleich auf’s Haar sehen, wie viel es bei Joel geschlagen, und zwar an der Stellung seines Käppchens. Saß es tief in die Stirn gezogen, dann war’s beim Alten nicht geheuer; rechts auf’s Ohr gerückt deutete es auf vorübergegangenes Gewitter; aber wenn’s auf dem linken Ohre saß und es unter den buschigen Augenbrauen munter aufblitzte, da sprudelte sein Mutterwitz und gestaltete die Stunden auf jener Gebirgsmatte zu unvergeßlichen.

So einen sonnigen Tag in Joel’s Leben hatten vier muntre Jünglinge getroffen, als sie, rüstig steigend, endlich auf der Plattform der Schmücke anlangten. Andachtsvoll schauten sie hinab in den Grund, hinüber in das Chaos durcheinander geworfener Berge, welche, vergoldet vom Strahle der untergehenden Sonne, in zauberisches Licht gehüllt, das naturliebende Gemüth der Vier gefesselt hielten. Auf einmal stimmten sie, wie auf höhere Eingebung, Mendelssohn’s: ‚Wer hat dich, du schöner Wald, aufgebaut etc.‘ an und in vollen Accorden hallte das Echo die schöne Weise von Thal zu Thal. Es waren Minuten der andachtsvollsten Weihe, aber nicht allein für die Vier, ein Fünfter hatte

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 566. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_566.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)